Die Büchse der Pandora
oder: Wie die Marktwirtschaft die vietnamesische Gesellschaft verändert

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von Arno Kohl

Der Reformprozeß in Vietnam, der 1986 offiziell unter dem Slogan doi moi (Erneuerung) eingeleitet wurde, hat zu einer beachtlichen Entwicklung des Landes geführt. Mit einer Wachstumsrate des BIP von durchschnittlich rund neun Prozent in den neunziger Jahren gehört Vietnam zu den Spitzenreitern in Asien. Das Pro-Kopf-Einkommen konnte innerhalb weniger Jahre mehr als verdoppelt werden: Von knapp 100 US-Dollar 1991 stieg es auf ca. 250 Dollar 1996. Wer heute Vietnam besucht, kann den Erfolg überall sehen. In Städten wie Ho-Chi-Minh-Stadt, Hanoi, Haiphong, ja selbst Danang ist das Warenangebot mittlerweile groß und die Märkte stark frequentiert. Es entstehen Geschäfte, die teure westliche Produkte anbieten, für die sich auch genügend Käufer finden. Auf dem Land konnten sich immer mehr Menschen ein Steinhaus leisten. Der Lebensstil der Bevölkerung hat sich seit Reformbeginn augenscheinlich drastisch verbessert.

Ein derartiger umfassender und tiefgreifender Wandel kann nicht auf die Wirtschaft beschränkt bleiben, sondern erfaßt notwendigerweise auch die Gesellschaft. Deutlich zeigt sich das u.a. in der Entstehung einer Schicht von Neureichen und einer sich vergrößernden Kluft zwischen reich und arm, eine Entwicklung, die eine mehr oder minder egalitär orientierte Gesellschaft vor eine Herausforderung stellt. Denn allzu großer Reichtum war im präkolonialen, konfuzianischen Vietnam, zumindest im nördlichen und mittleren Landesteil, suspekt, da er immer auf Kosten anderer erworben schien. Der Reiche im kolonialen Vietnam galt nicht selten als Kollaborateur der Franzosen. Der Sozialismus im unabhängigen Vietnam bekämpfte lange Zeit die Reichen und verteilte die Armut gleichmäßig. Doch heute ist die Sozialistische Republik Vietnam weiter von einer egalitären Gesellschaft entfernt als jemals zuvor seit Reformbeginn.

Der Unterschied zwischen reich und arm wächst sowohl zwischen den ländlichen und städtischen Regionen wie auch innerhalb der einzelnen Regionen. Die höchsten Einkommen betrugen in der Zeit zwischen 1976 und 1980 etwa das drei- bis vierfache der niedrigsten Einkommen. In den achtziger Jahren, als die ersten marktwirtschaftlichen Reformen durchgeführt wurden, stieg der Unterschied auf das sechs- bis achtfache. Mittlerweile wird er landesweit auf das zwanzigfache geschätzt.

Reichtum und Armut auf dem Land

Zwischen den ländlichen Regionen in den einzelnen Provinzen herrschen große Unterschiede. Die größte Anzahl reicher Bauern und zugleich das absolut höchste ländliche Einkommen findet man in den weniger dicht besiedelten Gebieten mit relativ großer Anbaufläche, in denen sich eine über die reine Subsistenzproduktion hinausgehende Marktproduktion entwickelt und sich der nichtlandwirtschaftliche Sektor ausbreitet. Das trifft besonders auf das Mekong-Delta, partiell auch auf das zentrale Hochland zu. In diesen Gebieten ist zugleich der Gegensatz zwischen arm und reich am größten. Das Einkommen der ländlichen reichen Haushalte betrug hier Anfang der neunziger Jahre das zwanzig- bis dreißigfache der armen Haushalte, in der nördlichen Bergregion das zehn- bis fünfzehnfache und im nördlichen Tonkin-Delta nur das vier- bis fünffache.

Einer landesweiten Untersuchung von rund 93.000 ländlichen Haushalten Ende 1993 zufolge lassen sich nur 2,3 Prozent als reich mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von mindestens 2,7 Mio. vietnamesischen Dong VND (273 US-Dollar) einstufen, während 22,14 Prozent als arm gelten, da sie ein Einkommen von weniger als 600.000 VND (55 US-Dollar) erzielen.

Die reichen Haushalte bestehen zumeist aus bäuerlichen Familien, die frühzeitig die Vorteile der Landwirtschaftsreformen von 1988 und 1993 nutzten und in ihr Land investierten, um über den Eigenbedarf hinaus für einen entstehenden Markt zu produzieren. Sie verfügen über das notwendige Kapital, um Maschinen, Dünger, Tiere etc. zu kaufen. Sie erwerben durch langfristige Pacht oder Kauf Land von der Genossenschaft und von anderen Bauern, wobei es sich nicht selten um illegalen Bodenkauf handelt. Oft dehnen die erfolgreichen Haushalte ihre ökonomischen Aktivitäten auf den nichtlandwirtschaftlichen Bereich wie Handwerk, Handel, Dienstleistung (z.B. Vermietung von Maschinen) aus, was zusätzliche lukrative Einnahmequellen schafft.

Ein Teil der ländlichen Partei- und Verwaltungskader ist unter Ausnutzung ihrer Position ebenfalls zu Wohlstand gekommen. In Einzelfällen haben sie sich für vietnamesische Verhältnisse großen Landbesitz aneignen können wie etwa im Falle des Distriktvizepräsidenten des Vinh Hung-Distrikts, Plain of Reeds, der über 100 Hektar Ackerfläche verfügt.

Beim Anbau von Reis läßt sich damit ein jährliches Einkommen von 400 bis 500 Millionen VND (ca. 36.000 bis 45.500 US-Dollar) erzielen — mindestens das 145fache des Durchschnittseinkommens! Weitere Einkommensquellen des agilen Funktionärs sind ein Traktor, eine Wasserpumpe, eine Tankstelle (die einzige vor Ort) und ein Lastwagen.

Vietnamesische Quellen weisen gerne auf einen dritten Typus reicher Haushalte gewissermaßen als warnendes Beispiel der negativen Auswirkungen der Marktwirtschaft hin: Schmuggler und (Klein-) Kriminelle. Ohne Zweifel stellen sie ein Problem dar, doch läßt sich das tatsächliche Ausmaß derartiger illegaler Aktivitäten und der damit angehäufte Wohlstand naturgemäß nur schwer abschätzen. Hinter der Einstufung von Schmugglern und Kriminellen als eigenständige reiche Schicht steckt möglicherweise mehr ein politisches Kalkül als eine objektive Einschätzung der Realität. Marktwirtschaft und Reichtum sind eben immer noch in den Augen eines Teils der Vietnamesen suspekt.

Allen Reformerfolgen zum Trotz machen die armen Haushalte immer noch einen beträchtlichen Prozentsatz an der Gesamtbevölkerung aus. Nach offiziellen Angaben sind 1996 etwa 20 Prozent der Vietnamesen als arm einzustufen — aufgrund anderer Armutskriterien geht die Weltbank sogar von über 50 Prozent Armen in Vietnam aus — ,wobei die überwiegende Mehrzahl auf dem Land lebt. Es lassen sich auf dem Land zwei größere Gruppen unterscheiden:

Erstens: Haushalte ohne Kapital, Arbeitskräfte und Know-how. Oft haben diese Haushalte überdurchschnittlich viele Kinder. Sie gehören zu den Benachteiligten der Reform, da sie von den Genossenschaften und den Gemeinden entweder nur minderwertiges Land zugewiesen bekamen oder aufgrund fehlender Produktionsfaktoren wie Kapital etc. nicht in der Lage sind, über eine Subsistenzproduktion hinauszugelangen. Oft sind sie gezwungen, sich als Lohnarbeiter bei den reichen Haushalten zu verdingen. Das so geschaffene Einkommen bleibt jedoch gering, da der Überschuß an ländlichen Arbeitskräften das Lohnniveau drückt. Das anhaltend hohe ländliche Bevölkerungswachstum verschärft das Problem des Arbeitskräfteüberschusses noch zusätzlich. 1996 waren schätzungsweise 28 Prozent der ländlichen Bevölkerung arbeitslos. Ein Teil wandert in die Städte ab in der Hoffnung, dort einen Arbeitsplatz zu finden. Der städtische Arbeitsmarkt ist jedoch nicht in der Lage, die Migranten vollständig zu absorbieren, zumal ihre Zahl — Anfang 1997 rund 200.000 in Hanoi und 700.000 in Ho-Chi-Minh-Stadt — ständig ansteigt.

Besonders der Kapitalmangel, der von bis zu 90 Prozent der ländlichen Haushalte als Hauptursache ihrer Armut gesehen wird, stellt die Betroffenen vor ein Dilemma. In Banken erhalten sie selten Kredite, da sie keine Sicherheiten vorweisen können. Leihen sie dagegen von Privatpersonen Geld, müssen sie hohe Zinsen von teilweise 20 Prozent pro Monat zahlen, was im Endeffekt zu größerer Armut durch hohe Verschuldung führen kann. Der Mangel an Produktionsfaktoren resultiert zugleich in einer starken Unterbeschäftigung der armen Bevölkerung, die einer vietnamesischen Untersuchung zufolge jährlich pro Kopf rund 80 Tage arbeitet, davon 30 Tage als Lohnarbeiter für andere. Demgegenüber bringen es die reichen Haushalte pro Kopf auf rund 270 Tage im Jahr.

Zeitens: Ethnische Minoritäten, die im Durchschnitt nur einen Bruchteil des Einkommens der Viet-Majorität erwirtschaften. Nicht zuletzt unfruchtbares Land, ein schwieriges Klima, mangelndes Know-how, eine fehlende Infrastruktur, aber auch jahrelange Benachteiligung durch die ethnische Majorität haben die Entwicklung in den von den Minderheiten besiedelten Randgebieten erschwert.

Landfrage

Es klingt wie eine Ironie der Geschichte, das ausgerechnet in Vietnam die durch zahlreiche Landreformen seit den fünfziger Jahren gelöst geglaubte Landfrage wieder an Aktualität gewinnt. Denn in einem gewissen Sinne wird das Rad der Geschichte wieder zurück gedreht durch die Erlasse von 1988 und 1993, die langfristige Verpachtung von Land an Bauern wieder zulassen. Obwohl sich das gesamte Land im Besitz des Staates (oder des Volkes, wie es die Verfassung von 1992 ausdrückt) befindet und die Bauern lediglich das Nutzungsrecht besitzen, finden schon seit Jahren regelrechte Landverkäufe statt. In manchen Regionen insbesondere im Süden und in Mittelvietnam, haben sie bereits zur Konzentration von Landbesitz geführt. Während im Süden maximal fünf Hektar Ackerland pro Kopf und im Norden aufgrund der höheren Bevölkerungsdichte nur drei Hektar erlaubt sind, verfügt eine beträchtliche Anzahl von Bauern bereits über 50 Hektar und mehr. In Mittelvietnam sind Fälle mit über 640 Hektar Landbesitz bekannt geworden.

Wie dringlich das Problem der Landkonzentration tatsächlich bereits ist, verdeutlicht indirekt eine Konferenz in Ho-Chi-Minh-Stadt im Oktober 1997 unter Leitung des stellvertretenden Ministerpräsidenten. Nach Angaben der einzelnen Provinzregierungen stieg die Anzahl der landlosen Bauernhaushalte in neun Provinzen des Deltas mittlerweile auf 83.000 an. Da das Land nicht sozialisiert wurde, dürfte es zu einem beträchtlichen Teil von anderen, wohlhabenderen Bauern gekauft worden sein. Im südlichen Mekong Delta besitzen nach Aussagen des ehemaligen Generalsekretärs der Kommunistischen Partei Vietnams KPV, Do Muoi, etwa zehn Prozent der ländlichen Haushalte kein Land. Demgegenüber stieg die Zahl der bäuerlichen Haushalte, die mehr als drei Hektar Ackerland besitzen, mancherorts auf fast sechs Prozent; landesweit lag sie 1996 bei 3,6 Prozent. Diese Zahlen mögen gering erscheinen, doch muß man bedenken, daß pro Haushalt im sehr dicht besiedelten Delta des Roten Flusses weniger als 2.300 m2 und im Mekong-Delta rund 10.000 m2 (ein Hektar) üblich sind. Die Größe der Ackerfläche pro Haushalt nimmt zudem aufgrund des hohen Bevölkerungswachstums ständig ab und droht, unrentabel zu werden. Auf den immer kleiner werdenden Parzellen wechseln die Bauern vom Reisanbau zum Gemüseanbau, bis sie den Ackerbau ganz aufgeben, da er die Familie nicht mehr ernähren kann. Nach langen Jahren des Schwei-gens meldete sich daher im Sommer 1997 Nguyen Van Linh, der als der Vater des Reformprozesses gilt und nach 1991 in der politischen Versenkung verschwunden war, mit deutlicher Kritik zu Wort. In der Parteizeitung Nhan Dan warnte er vor der zunehmenden Verarmung eines Teiles der ländlichen Bevölkerung: »The number of peasants who have little land or none at all to cultivate is increasing ...«.

An- und Verkauf von Landbesitz, nicht nur von Landnutzungsrechten, sind den Behörden oft bekannt, mitunter beteiligen sie sich auch direkt daran. So hat sich einer der größten Privatunternehmer in Danang 1992 fünf Grundstücke in Flughafennähe von den Behörden gegen eine Gebühr per Schenkungsurkunde übereignen lassen. Bei dem gewinnbringenden Deal half ihm der Leiter seiner Hausbank, der als einziger Privatunternehmer Abgeordnete des Volkskongresses von Danang ist und über gute Beziehungen zu den Behörden verfügt. Der neue Besitzer der Grundstücke sieht faktisch keinen Unterschied zwischen Landbesitz und Landnutzungsrechten.

Ein zusätzliches Problem bei der Verteilung von langjährigen Landnutzungsrechten an die Bauern durch die örtlichen Genossenschaften und Gemeinden existiert vor allem im südlichen Vietnam. Denn dort versuchen diejenigen, die in den siebziger Jahren im Zuge der Landreformen und Kollektivierungsmaßnahmen Land verloren haben, ihren ehemaligen Besitz zumindest teilweise wieder zurück zu erhalten. Allein in den Jahren von 1988 bis 1990 gab es in ganz Vietnam 200.000 Beschwerden über die Verteilung von Landnutzungsrechten durch die lokalen Behörden.

In einigen Provinzen wie Nghe An hat die ländliche Armut, gepaart mit schamlosen Bereicherungsversuchen der lokalen Funktionäre, bereits wiederholt zu einer explosiven Situation geführt.

Selbst in ökonomisch entwickelten Provinzen ist es schon zu Unruhen gekommen wie das jüngste Beispiel in Thai Binh zeigt, einer Provinz, der man eine revolutionäre Tradition nachsagt und die als eine der kommunistischen Hochburgen galt. Laut offiziellen Angaben kam es ab Mai 1997 in 128 Dörfern zu Protesten gegen die lokalen Behörden und die KPV. Im Mittelpunkt standen behördliche Korruption und Landstreitigkeiten. Zu den wenigen konkreten Fällen, die von der Parteizeitung Nhan Dan zitiert werden, gehörten bezeichnenderweise illegale Landverkäufe durch einen Funktionär.

Die KPV ist sich des Problems durchaus bewußt. Ausdrücklich stellt jüngst die Resolution des 4. Plenums der KPV fest, daß sich die Schere zwischen arm und reich vergrößere und daß Arbeitslosigkeit zu einem brennenden Problem werde. Diese und andere Probleme würden das Risiko »of socio-economic instability« in sich bergen. Mehrere Absätze des Dokuments befassen sich mit Landrechten, deren Transfer — gemeint ist vor allem der Verkauf — streng durch das Gesetz kontrolliert werden müsse.

Reichtum und Armut in der Stadt

Das vietnamesische Entwicklungszentrum schlechthin ist Ho-Chi-Minh-Stadt, das ehemalige Saigon, dessen Wirtschaftswachstum seit Jahren weit über dem Landesdurchschnitt liegt. 1995 erwirtschaftete die Stadt 17,4 Prozent des gesamten BIP und steht damit landesweit an der Spitze. Mit großem Abstand folgt an zweiter Stelle Hanoi, das es auf 6,7 Prozent brachte. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen ist in den städtischen Regionen nicht nur weitaus höher, sondern nimmt auch schneller zu als auf dem Land. Dementsprechend ist hier der Anteil der wohlhabenden und reichen Haushalte vergleichsweise hoch.

Die Schicht der städtischen Reichen läßt sich grob in zwei Gruppen unterteilen, wobei es allerdings eine Reihe von Überschneidungen zwischen beiden gibt:

1) Personen, die aufgrund ihres sozialen Status und ihrer beruflichen Position zu Reichtum gelangt sind. In der überwiegenden Mehrzahl handelt es sich dabei um leitende Regierungsangestellte auf allen Verwaltungsebenen von der Bezirks- bis hin zur Ministerebene sowie Parteikader. Eine kleinere Gruppe von Angestellten in staatlichen Organisationen und Firmen, die Kontakt mit Ausländern haben, brachte es ebenfalls zu Wohlstand. Besonders in Hanoi, dem politischen und administrativen Zentrum des Landes, ist diese Gruppe von Neureichen stark präsent.

2) Bei der zweiten Gruppe handelt es sich um die aus dem Privatsektor hervorgegangenen erfolgreichen Unternehmer. Sie haben es zumeist in kurzer Zeit zu vergleichsweise großem Wohlstand gebracht. Hier lassen sich vor allem im Süden in Ho-Chi-Minh-Stadt zwei Gruppen unterscheiden: Einerseits die Angehörigen der früheren »Bourgeoisie«, also der wohlhabenden Schicht vor 1975. Der vietnamesische Soziologe Trinh Duy Luan schätzt ihren Anteil auf knapp ein Drittel der Neureichen. Diese Unternehmer sind in den Bereichen der Dienstleistung, traditioneller Handel (Gold, Edelsteine, Antiquitäten), Im-/Export und in den letzten Jahren verstärkt auch in der Leichtindustrie tätig. Andererseits gehören dazu auch die chinesischstämmigen Vietnamesen, die besonders erfolgreiche Unternehmer sind und einzelne Wirtschaftszweige in Ho-Chi-Minh-Stadt dominieren. Nicht zuletzt aus historischen Gründen ist ihr Verhältnis zu den Vietnamesen gestört.

Überschneidungen gibt es insofern zwischen den unter Punkt eins und zwei genannten Gruppen, als ein beträchtlicher Teil gerade der erfolgreichen Unternehmer aus dem Bereich der staatlichen Administration und der Kommunistischen Partei stammt. Sie haben ihr »soziales Kapital«, also ihre besonderen Beziehungen zu den Behörden und zur KPV, ausgenutzt, um selbst oder im Namen eines nahen Verwandten Privatunternehmen zu gründen. Im Gegensatz zu anderen Privatunternehmern haben sie keine Probleme beim Zugang zu Produktionsfaktoren wie Kapital (Kredite), Land, Strom, Wasser, etc.

Zu den städtischen Verlierern des Reformprozesses und damit zu den armen Schichten zählen vor allem die Arbeiter des Staatssektors. Viele Staatsbetriebe erwirtschaften nur noch Verluste, so daß sie mitunter monatelang nicht in der Lage sind, den vollen Lohn an ihre Arbeiter auszuzahlen.

Zudem ist das Lohnniveau in diesen Betrieben vergleichsweise niedrig und reicht kaum für den Lebensunterhalt aus. Den Arbeitern fehlen im Falle ihrer Entlassung die wichtigsten Voraussetzungen, um selbst im prosperierenden Privatsektor tätig zu werden. Weder verfügen sie über die notwendige materielle Basis noch über spezifisches Fachwissen oder soziales Kapital, das ihnen die Gründung eines eigenen Unternehmens ermöglichen könnte. Ebenso wie die nach dem Rückzug aus Kambodscha 1989 demobilisierten zahlreichen Soldaten bleibt ihnen nur, schlecht bezahlte Jobs anzunehmen oder — ganz unten auf der sozialen Leiter — als Cyclo-Fahrer zu arbeiten.

Im Durchschnitt handelt es sich bei den armen städtischen Familien um kinderreiche Familien, was eine zusätzliche finanzielle Belastung darstellt.

In zunehmenden Maße sehen sich diese Familien ebenso wie auf dem Land gezwungen, ihre Kinder einfach auszusetzen. Die Zahl der städtischen Straßenkinder stieg landesweit innerhalb nur eines Jahres von 16.000 1994 auf rund 50.000 1995 an.

Finanziell schlecht gestellt sind auch Kriegsinvaliden und Rentner, denen der Staat aufgrund leerer Kassen keinen angemessenen Lebensstandard gewährleisten kann.

Verhaltens- und Einstellungswandel durch Reichtum

Der materielle Reichtum prägt den Lebensstil, das Verhalten, das Denken der Wohlhabenden. Sie unterscheiden sich deutlich von der Mehrheit der Bevölkerung und scheuen mittlerweile nicht mehr davor zurück, das zu zeigen. Das kann auf vielerlei Art und Weise geschehen. Besonders die Jüngeren unter ihnen kaufen in den teuren Mini-Marts, die ausländische Produkte wie Kosmetika zu Preisen auf Westniveau anbieten. Mit Vorliebe greift man zu Produkten namhafter Hersteller — je bekannter, desto besser (und teurer). Bestimmte Moden halten Einzug: Weihnachten etwa kaufen sich unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit diejenigen, die es sich leisten können, einen Weihnachtsbaum aus Plastik. Die Tran Hung Dao und andere Straßen in Ho-Chi-Minh-Stadt sind im Dezember gesäumt mit Geschäften, die Weihnachtsbäume, Christbaumschmuck und christliche Devotionalien feilbieten. Im letzten Jahr wurde die Stadt von einer Art Tamagotchi-Fieber heimgesucht. Für 30 US-Dollar (ein halbes Monatsgehalt) pro Stück fanden die kleinen elektronischen Blechvögel, die gehegt und gepflegt werden wollen, reißenden Absatz.

Viele leisten sich ein zweites Haus. Bei einer Befragung von über 200 städtischen und ländlichen Privatunternehmern gaben rund 30 Prozent an, über mehrere Wohnungen oder Häuser zu verfügen, ein Luxus gerade in einer dichtbesiedelten Region wie dem Delta des Roten Flusses im nördlichen Vietnam. Eine auffällige Art, seinen Reichtum zu demonstrieren, besteht im Kauf eines ausländischen Luxusautos — und in der Bezahlung der horrenden Importsteuer. So etwa ein Privatunternehmer aus Ho-Chi-Minh-Stadt, Dollarmillionär, Mitglied des einflußreichen Unternehmerverbandes UAIC und bereits vor 1975 zur wohlhabenden Schicht gehörend, der direkt aus Deutschland einen Mercedes der gehobenen Klasse kaufte, obwohl er, wie er versicherte, in Vietnam dasselbe Fahrzeug wesentlich günstiger hätte erwerben können. Kurzum, der Lebensstil der Reichen unterscheidet sich deutlich von demjenigen anderer Bevölkerungsgruppen, wobei der Unterschied im Süden am größten ist. Hier wird landesweit das höchste Einkommen erzielt, und das Sparverhalten ist traditionell weitaus geringer ausgeprägt als im mittleren und nördlichen Vietnam.

Auch im Denken spiegelt sich der sozioökonomische Wandel wieder. Während die offizielle sozialistische Ideologie jahrelang den Unterschied zwischen arm und reich als unnatürlich, als Ergebnis der Ausbeutung von Menschen durch Menschen abgelehnt hat, sehen die Unternehmer darin in der überwiegenden Mehrzahl ein natürliches Charakteristikum jeder Gesellschaft. Sie akzeptieren den Unterschied (von dem sie ja immerhin profitieren) und wenden sich gegen dessen Regelung durch die Regierung. Unter den erfolgreichen Privatunternehmern hat sich mittlerweile eine Art Gruppenbewußtsein herausgebildet. Zwar schrecken sie noch aus verständlichen Gründen davor zurück, von einer »Klasse« der Privatunternehmer zu sprechen, doch betonen sie die Unterschiede zu anderen sozialen Gruppen. Vor allem von den Bauern, immerhin über drei viertel der Bevölkerung, grenzen sie sich deutlich ab. In der Geringschätzung anderer sozialer Gruppen drückt sich ein gewisser Stolz und Selbstbewußtsein aus, das sogar soweit geht, daß sich ein beträchtlicher Teil der Unternehmer als Vorbild für die Gesellschaft betrachtet. Eine Vorbildfunktion hatte bislang nur die Kommunistische Partei für sich und ihre Mitglieder reklamiert!

Doppelte Herausforderung

Für den vietnamesischen Staat im allgemeinen und die herrschende kommunistische Partei im besonderen ergibt sich aus der zunehmenden sozialen Differenzierung der Gesellschaft eine doppelte Herausforderung:

— Auf der einen Seite entsteht eine ökonomisch erfolgreiche und infolgedessen sozial einflußreiche Gruppe von Privatunternehmern, die spezifische Interessen verfolgt, insbesondere die politische und rechtliche Absicherung ihrer Wirtschaftstätigkeit. Das bedeutet eine Fortsetzung des bisherigen Reformprozesses und eine weitere Liberalisierung der vietnamesischen Wirtschaft mit all ihren soziopolitischen Implikationen (z.B. Verrechtlichung der Gesellschaft, Reduktion des Staatssektors, weitere wirtschaftliche Öffnung gegenüber dem Ausland, etc.). Damit wird jedoch zugleich das Machtpotential der herrschenden KPV eingeschränkt: Eine Verrechtlichung etwa wie sie sich bereits mit dem Erlaß eines bürgerlichen Rechts von 1996 andeutet, führt in der letzten Konsequenz zur Einschränkung politischer Willkür. Auch die KPV könnte dann an Regeln gebunden sein, die sie wie jeder normale Bürger beachten müßte.

Faktisch findet ohnehin eine Erosion der Macht der KPV statt, indem nämlich eine beachtliche Anzahl der Kader und Mitglieder selbst privatwirtschaftlich tätig wird. Diese verfolgen weniger ideologische als handfeste ökonomische Interessen. Partei und Politik werden auf diese Weise langfristig quasi ökonomisiert.

— Auf der anderen Seite führen die relative Verarmung auf dem Land (geringeres Einkommenswachstum als in der Stadt), in manchen Orten auch zunehmend die absolute Verarmung, und die geradezu endemische Korruption unter den Verwaltungs- und Parteifunktionären zu einem Legitimationsverlust der herrschenden Partei. Die Partei verliert an Ansehen und damit auch an Macht. Da reicht es nicht mehr aus, periodisch die Parteimitglieder zu mehr Disziplin anzuhalten. Und erst recht reicht es nicht, in Belagerungsmentalität die Kriegsveteranen zur Verteidigung der Partei gegen Subversion und »friedliche Evolution« — gemeint ist die Aushöhlung des vietnamesischen Kommunismus durch äußere Feinde — aufzurufen.

Das Gefühl, in einer tiefen Krise zu stecken, scheint soweit verbreitet, daß sogar verdiente Parteimitglieder öffentlich Kritik äußern. General Tran Do, ehemaliger Parteiideologe der Kulturkommission und Kriegsveteran, forderte zu radikalen politischen Reformen auf, wenn die Partei nicht ihre Desintegration riskieren wolle. Bleibt abzuwarten, ob die Partei die Kraft findet, auf die Herausforderungen, adäquat zu reagieren, vor denen sie jetzt steht.

Eine Version des Artikels mit ausführlicheren Fußnoten und Literaturhinweisen ist erhältlich beim Autor (Arno Kohl, Zentrum für Ostasien Pazifik Studien, FB III, Universität Trier, 54296 Trier, email: kohla@uni-trier.de). Der Artikel stellt u.a. Ergebnisse einer eigene Untersuchung des privaten Industriesektors in Hanoi, Tien Son, Danang, Duy Xuyen, Ho Chi Minh-City und Thu Duc, 1996/97 vor.

Weiterführende Literatur:

Dang Phong: »Aspects of Agricultural Economy and Rural Life in 1993«; in: Benedict J. Tria Kerkvliet/Doug J. Porter (Hg.): Vietnam‹s Rural Transformation; Boulder, CO 1995 (Transitions: Asia and Asian America-series): 165-84.

Heberer, Thomas / Kohl, Arno: »Privatisierungsprozesse in Vietnam und ihre soziopolitischen Konsequenzen«, Vortrag auf dem Symposium »Vietnams neue Position in Südostasien«, Hamburg, Juli 1997, Druck i.Vorb.

Le Thi: »Changes of the Economic Structure in Rural Areas and Policy Towards Women«; in: Vietnam Social Sciences 1997, no. 3: 22-33

Nguyen Cong Binh: »Findings of an Economic-Social-Agricultural Investigation in the Cuu Long (Mekong) Delta«; in: Vietnam Social Sciences 1993, no. 3: 11-21.

Nguyen Dang Tuat: »Wealth Differentiation Among the Peasants of the Mekong Delta«; in: Vietnamese Studies 1993, no. 1: 89-94.

Nguyen Hai Huu: »Hunger Elimination and Poverty Reduction in the Countryside«, in: Vietnam Socio-Eoconomic Development 1997, no. 11: 37-46

Nguyen Thi Canh: »The Social Impacts of Economic Reforms in Ho Chi Minh City«; in: Vietnam‹s Socio-Economic Development 1997, no. 10: 58-64

Pham Xuan Nam: »Socio-Economic Impacts of the Renovation in Vietnam. An Overview«; in: Vietnam Social Sciences 1994, no. 3: 10-24

To Duy Hop: »Some Characteristics of the Changing Social Structure in Rural Vietnam under Doi Moi«; in: Sojourn 1995, no. 2: 280-300.

Trinh Duy Luan: »Impacts of Economic Reforms on Urban Society«; in: Vu Tuan Anh (Hg.): Economic Reform and Development in Vietnam; Hanoi 1995: 134-96.

Tuong Lai: »The Issues of after 10 Years of Doi Moi in Vietnam«; in: Vietnam Social Sciences 1997, no. 1: 18-32.

United Nations: Poverty Elimination in Viet Nam; Hanoi 1995: 13-21.

(Quelle: südostasien 1-98, S.13-18)

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Stand: 10. August 1998, © Asienhaus Essen / Asia House Essen
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