Christen in Nordkorea

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Günter Freudenberg
Professor für Philosophie und Stifter der Asienstiftung (siehe auch im ausführlicher Lebenslauf).

Über die Situation der Christen in Nordkorea fehlen uns nach wie vor zureichende und vor allem auch verläßliche Angaben. Die Schwierigkeiten beginnen mit der Frage, wer gemeint ist, wenn wir von „Christen“ reden. Dies ist keineswegs klar, da der Terminus „Christen“ in Korea häufig evangelisch getauften Koreanerinnen und Koreanern vorbehalten bleibt, während katholisch getaufte Koreanerinnen und Koreaner als „Katholiken“ bezeichnet werden. Verwenden wir also den Begriff „Christen“, müssen wir darauf achten, ob er die Katholiken einschließt oder nicht.

Wahrscheinlich hat es auch in Nordkorea trotz schwieriger Umstände immer eine kleine Anzahl von Katholiken gegeben, aber erst 1988 treten sie öffentlich als eigene Organisation in Erscheinung, deren Mitgliedschaft heute bei 3000 vermutet wird. Sind sie bis zu diesem Zeitpunkt mit angesprochen, wenn von Christen berichtet wird, oder befanden sie sich im Untergrund?

Die Institution Kirche ist in Nordkorea ebenso verschwunden, wie es Denominationen sind. Ihre Stelle nimmt evangelischerseits der „Bund der Christen“ (Korean Christian Federation). Seit 1988 gibt es den „Bund der Katholiken“ (Korean Catholic Federation). Dies sind gesellschaftliche Zusammenschlüsse je von evangelischen und katholischen Christen im Rahmen des herrschenden kommunistischen Systems und in dieses durch ihre Parteizugehörigkeit eingebunden. Im Frühjahr 1989 kam es darüber hinaus zur Gründung eines „Rates der Religionsanhänger“ (Korean Religionists Council), dem Spitzenfunktionäre des „Bundes der Christen, der Katholiken und der Buddhisten“ angehören, ohne daß seine politische Funktion bekannt oder er bislang nach außen als ökumenischer Ansprechpartner in Erscheinung getreten wäre. Alle Kontakte, die zur Zeit bestehen, beschränken sich auf den „Bund der Christen“. Andere gibt es nicht. Das heißt, daß unsere nordkoreanischen Gesprächspartner und Informanten zwar Christen, politisch aber zugleich Funktionäre einer Organisation sind, die der Partei untersteht und im Einklang mit den Zielen des Staates arbeitet und kommuniziert. Sie sind im Augenblick Pfarrer, gleichzeitig jedoch linientreue Vertreter einer politischen Ordnung, welche die Existenz des „Bundes der Christen“ garantiert und zugleich ihrer Kontrolle unterwirft. Diese Tatsache macht den Dialog mit ihnen schwierig und verlangt viel Verständnis und Takt. Zugleich ist es notwendig, sich ein nüchternes Bild von den Verhältnissen zu machen, denen der Versuch einer kritisch solidarischen Zusammenarbeit mit nordkoreanischen Christen, und das heißt zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit dem evangelischen „Bund der Christen“, Rechnung tragen muß.

Vorüberlegungen und Einschränkungen

Obwohl die Christen, Katholiken eingeschlossen, eine verschwindende Minderheit sind, deren Existenz bzw. Überleben in Nordkorea von ausländischen Beobachtern lange Zeit überhaupt in Zweifel gezogen wurde, scheint das Interesse des Staates an ihrer Organisation und gesellschaftlichen Einbindung nie verloren gegangen sein und seit etwa 1980 sogar zugenommen zu haben. So wurden zur großen Überraschung 1983/84 das Alte und Neue Testament und Gesangbuchlieder in P’yòngyang auf koreanisch veröffentlicht, was einer systematischen Stärkung des Christentums gleich kommt. Da sich an der ideologischen Verurteilung der Religion nichts geändert hat, muß es hierfür politische Gründe geben. Die Loyalität der Christen und ihre gleichzeitige sichere organisatorische Verankerung in dem herrschenden politischen System müssen für dieses wichtig geworden sein. Sei es deshalb, weil es die Religionen nur mit hohen politischen Kosten ausrotten könnte, wie ein hoher Parteifunktionär sagen wird, sei es deshalb, weil eine kirchliche Organisation, deren Loyalität man gewiß sein kann, sich international als nützlich erweist. Andererseits hielt sich die Christenfeindlichkeit der Partei insofern von vornherein in Grenzen, als Kim Il Sungs eigener familiärer Hintergrund stark christlich geprägt war. Sein Vater hatte eine christliche Schulbildung, seine Mutter wuchs in einer streng christlichen Familie auf, ein entfernter Onkel war sogar presbyterianischer Pfarrer, als Kim Il Sung die Macht im Norden der koreanischen Halbinsel übernahm. Er machte hieraus kein Geheimnis.[i]

Vom Denken der vorhandenen Christen, ihrer Herkunft und ihrem Interesse, sich politisch zu organisieren, wissen wir wenig oder nichts. Da das nordkoreanische Gesellschaftssystem keinen Spielraum für autonome Organisationen läßt, muß man davon ausgehen, daß die nordkoreanischen Christen, die an pankoreanischen bzw. internationalen Begegnungen teilnehmen dürfen, im Einklang mit der herrschenden Lesart argumentieren. Inwieweit für sie in diesem Zusammenhang die christliche Identität zum Problem wird und sich angesichts von Widersprüchen die Frage stellt, was es bedeutet, Christ im Chuch’e-Sozialismus zu sein, ist nach meinen, auf wenige offizielle Anlässe begrenzten Erfahrungen mit nordkoreanischen Christen schwer zu sagen.

Die Antwort ist umso schwieriger, als die Chuch’e-Ideologie der nordkoreanischen Bevölkerung von Kindesbeinen an in einem Maße eingeimpft wird, daß man, von außen kommend, den Eindruck nicht los wird, daß die „Große Erzählung“ von Kim Il Sung und den Ahnen der antiimperialistischen Revolution inzwischen voll und ganz an die Stelle der historisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit getreten ist. Nur ganz selten erlebt man Situationen, in denen die „Große Erzählung“ mit der Erfahrung in Konflikt gerät bzw. Antworten von der offiziellen Lesart abweichen. In der Regel lauten Informationen bis hin zu den verwendeten Formulierungen überall gleich, weil richtige Antworten nur diejenigen sind, welche mit dem Mythos erlernt oder von dessen Verwaltern genehmigt worden sind. Insofern besteht zwischen den Reaktionen der Funktionäre des „Bundes der Christen“ in Nordkorea und denen normaler Regierungsvertreter kein großer Unterschied und es wäre eine Illusion zu glauben, daß nordkoreanische Gesprächspartner sich in Kernfragen anders äußern und wir auf gleicher Ebene mit ihnen kommunizieren könnten. Die Botschaften, die uns evangelische Christen aus Nordkorea  bei seltenen Gelegenheiten, wie den Kirchentagen in Berlin und jetzt wieder in Leipzig, vermitteln, stimmen mit den Sprachregelungen des politischen Herrschaftsapparates weitgehend überein. Insofern muß man viele Frustrationen einkalkulieren, wenn man sich den Dialog mit nordkoreanischen Christen zum Ziel setzt; ein Dialog, wie er in der EKD zu den südkoreanischen Kirchen schon seit Jahrzehnten besteht. Es wird sich erweisen, ob die Zeit inzwischen für einen Erfahrungsaustausch reif ist. Aber selbst wenn man über die wirkliche Lage der Kirche und das Selbstverständnis der evangelischen Christen in Nordkorea wenig erfahren sollte, sind formale Kontakte immer noch besser, als keine Kontakte. Sie verdienen es aus vielen Gründen, intensiviert und ausgebaut zu werden, bis endlich ein echter Erfahrungsaustausch zustande kommt.

Daß gerade Christen der früheren DDR sich die Aufgabe stellen wollen, den im Westen bis Anfang der achtziger Jahre vernachlässigten, ja politisch diskriminierten Gedankenaustausch mit den nordkoreanischen Christen zu pflegen, ist sehr zu begrüßen. Diese können sich jedenfalls glaubhafter in die Lage der nordkoreanischen Christen versetzen, glaubhafter in einen offenen Erfahrungsaustausch treten, als Christen im Westen. Allerdings darf man nicht übersehen, daß deren Geschichte als Kirche im Sozialismus bei nordkoreanischen Partner notwendigerweise auch Unbehagen weckt und die deutsche Entwicklung nach der Wiedervereinigung, was den Umgang mit dem sozialistischen Erbe betrifft, in P’yòngyang auch unter christlichem Gesichtspunkt nicht ohne Grund mit Ablehnung und größtem Mißtrauen bedacht wird.

Der Versuch der Darstellung der Lage der Christen in Nordkorea ist nur unter folgenden Einschränkungen möglich:

Ich kann mit Ausnahme weniger offizieller Gelegenheiten auf keine persönlichen Gespräche mit nordkoreanischen Christen zurückgreifen.

Meine Informationen stammen direkt oder indirekt von nordkoreanischen Funktionären, die ich aus Anlaß eines offiziellen Besuches in Nordkorea im Herbst 1979 auf die Existenz von Christen in ihrem Land angesprochen habe, oder aus Berichten anderer.

Es gibt meines Wissens keine Untersuchung über die Geschichte des Christentums in Nordkorea nach 1945.

Es gibt keine schriftlichen Selbstzeugnisse des verfaßten Christentums in Nordkorea, noch Statistiken über die Zahl, soziale Herkunft, Alters- und Geschlechterstruktur ihrer Mitgliederschaft.

Es gibt keine direkten, ständigen Kontakte nordkoreanischer Christen bzw. kirchlicher Gremien mit Christen bzw. kirchlichen Gremien im Süden oder in anderen Teilen der Welt. Alle bisherigen Kontakte gehen auf Initiativen ausländischer Christen bzw. kirchlicher Einrichtungen zurück und beschränken sich auf wenige Spitzenfunktionäre.

Auch wenn meine persönlichen Informationen bei den Besuchen von Mitgliedern der Kommission der Kirchen für Internationale Angelegenheiten des Ökumenischen Rates der Kirchen in P’yòngyang in den Jahren 1985 und 1987 und bei Besuchen von Mitgliedern des „Bundes der Christen“ auf den Kirchentagen 1989 und 1997 bestätigt und teilweise ergänzt wurden, ist nicht sicher, daß sie mit den Tatsachen übereinstimmen. Sie passen zum Teil nicht zusammen und sind auf jeden Fall lückenhaft.

Die Christen in Nordkorea

Tagebuchaufzeichnung vom 19. September 1979

Kim Mjong Suk, damals einer der stellvertretenden Vorsitzenden der „Kommission für die Vereinigung des Vaterlandes“, erläutert die Entwicklungsstufen der nordkoreanischen Gesellschaft. Im folgenden gebe ich seine Ausführungen wieder:

„Die nordkoreanische Gesellschaft befände sich seit etwa 1970 auf der 4. Stufe des revolutionären Prozesses, die als Vollendung des Sozialismus charakterisiert werde. Die Vollendung des Sozialismus hänge ab von der zielgerichteten Durchführung dreier Revolutionen; nämlich:

Unter die alten Ideologien fallen natürlich auch die überlieferten Religionen. Sie stehen damit in Nordkorea als überholte Gedankensysteme prinzipiell zur Disposition und werden ideologisch ausgegrenzt, wenngleich nicht politisch verboten. Solange es sie gibt, unterliegen sie der Vorherrschaft des revolutionären Prozesses, dessen politisches Subjekt die „Demokratische Front der Vereinigung des Vaterlandes“ unter Führung der Partei der Arbeit ist, der einzigen legitimen revolutionären Kraft. Das Muster ist bekannt. Neben der national religiösen „Chondo“ Partei sind dementsprechend der „Bund der Buddhisten“ und der „Bund der Christen“, in denen jeweils die fortschrittlichen Buddhisten und Christen organisiert sind, Mitglied der Demokratischen Front unter Führung der Partei der Arbeit. Beide verlieren, so Kim Mjong Suk, in dem Maße in der nordkoreanischen Gesellschaft an Stärke und Bedeutung, wie die Vollendung des Sozialismus voranschreitet; das Christentum aus historischen Gründen mehr als der Buddhismus.

Meine Aufzeichnungen fahren wie folgt fort: „Beim Mittagessen greife ich die Religionsfrage auf... Kim möchte sich erst auf sie vorbereiten“. Dies ist die typische Reaktion, wenn ein kritischer Gegenstand angesprochen wird und der offizielle Standpunkt nicht klar ist. Die Antwort erhalte ich erst am 23. September 1979, als Kim Mjong Suk zum Thema Christentum Stellung nimmt:

„Zwiespältige Rolle der presbyterianischen Mission bei der zwangsweisen Öffnung Koreas Ende des 19. Jahrhunderts.

Die aus der amerikanischen Mission entstandene Kirche wäre pro-amerikanisch und kapitalistisch gewesen. Sie hätte, was ihre offiziellen Vertreter betrifft, nach der Befreiung auf Seiten der USA, nicht auf Seiten des koreanischen Volkes gestanden.

Kirchenvertreter hätten sich in den Kriegsjahren und nach der Kapitulation Japans 1945 an der Verhaftung von koreanischen Partisanen, an der Verfolgung der Kommunisten und an Greueltaten an der Bevölkerung beteiligt. Der einseitige Pro-Amerikanismus des überwiegenden Teils der christlichen Missionare hätte in Nordkorea zu einer Empörung der Bevölkerung gegen die christlichen Kirchen geführt, vor allem gegen viele Amtsinhaber, denen man vorwarf, mit den USA unter einer Decke zu stecken. Der Koreakrieg und die totale Kriegsführung der USA hätten den Druck auf die Amtskirche verschärft. Amerika-freundliche Pfarrer und Gemeindemitglieder seien massenhaft in den Süden geflohen.

Die im Westen behauptete Religionsfeindlichkeit Nordkoreas sei Propaganda. Das Christentum sei nicht verboten, es werde im heutigen Nordkorea auch nicht bekämpft. Persönlichkeiten, die christlich getauft sind, nähmen hohe politische Ämter ein. Zwar sei die Zahl der Christen zurückgegangen und es seien keine zerstörten Kirchen wieder hergestellt worden, aber es gäbe nach wie vor aktive Christen und christliche Gottesdienste. Sie zu bekämpfen wäre kontraproduktiv; denn die Wurzeln der Religion reichten viel zu tief und der Staat könne auf einen so großen Bevölkerungsanteil, wie den einer Religion verhafteten, beim Aufbau des Landes nicht verzichten, geschweige ihn sich zum Gegner machen.

Ob Gemeinden existieren, ob sie außerhalb des Bundes der Christen existieren, ob es theologischen Nachwuchs gibt, werde nicht deutlich. Eine Zusammenkunft von Christen aus Nord- und Südkorea sei wünschenswert.“

Einsichten aus späteren Kontakten

Die als wünschenswert bezeichnete Zusammenkunft von Christen aus Nord- und Südkorea kam erstmals 1981, wenngleich nicht im strengen Sinne des Wortlautes, auf Initiative der „Koreanischen Christen im Ausland für Wiedervereinigung“ unter dem Vorsitz des Frankfurter Pfarrers Lee Young-Bin zustande und war als Schritt der politischen Versöhnung im Vorfeld der Wiedervereinigung gedacht. Weitere Konferenzen folgten in Österreich und Finnland in den Jahren 1982 und 1984, bevor im gleichen Jahr die Tozano-Konsultation, zu der erstmals nordkoreanische Christen eingeladen worden waren, eine Wende im Verhältnis des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf zu Nordkorea einleitete. Eine Wende insofern, als er sich in der Vergangenheit einseitig den Standpunkt der USA zu eigen gemacht hatte. Von nun an bemühte sich der Ökumenische Rat der Kirchen nicht nur um eigene Kontakte zu Nordkorea, sondern auch um die Vermittlung von Kontakten zwischen dem evangelischen „Nationalrat der Kirchen in Südkorea“ (National Council of Churches in Korea, NCCK) und dem „Bund der Christen“ in Nordkorea. So geschehen 1986 in Glion/Schweiz (Glion I).

Die Treffen zwischen koreanischen Christen im Ausland und Christen aus Nordkorea in Wien und Helsinki waren als erste Versuche einer Überwindung wechselseitiger Feindbilder aus christlichem Geist wichtig, objektiv jedoch ein Fehlschlag, weil die nordkoreanischen Partner zu offenen, selbstkritischen Gesprächen nicht bereit oder fähig waren, sondern vorformulierte politische Statements abgaben bzw. verabschiedet wissen wollten, die sich einseitig gegen Südkorea und die USA richteten. Sie waren insofern teuer erkauft, als sie die Gruppe der „Koreanischen Christen im Ausland für Wiedervereinigung“ in Verdacht brachten, Handlanger des nordkoreanischen Regimes zu sein, und damit Diskriminierungen und politischer Isolation aussetzten. Außerdem bestärkte das Auftreten der Christen aus Nordkorea die These, der „Bund der Christen“ sei nichts anderes als ein Parteiorgan - ohne eigenes Profil. Hatte Kim Mjong Suk dies gemeint, als er von aktiven Christen in Nordkorea sprach?

In den Jahren 1985 und vor allem 1987 gewann das Bild genauere Konturen, die sich danach, so weit ich sehe, nicht mehr wesentlich ändern sollten. Denn nach dem interkirchlichen Höhepunkt Glion II 1988 und der Verabschiedung einer erstmals von Kirchenvertretern Nord- und Südkoreas gemeinsam erarbeiteten Erklärung zu Friede und Wiedervereinigung Koreas gab es eher Rückschritte im Dialog mit den Christen Nordkoreas. Ebenfalls erstmals konnten 1985 zwei Vertreter der „Kommission der Kirchen für internationale Angelegenheiten“ des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf Nordkorea besuchen und u. a. mit dem Generalsekretär des Zentralausschusses des „Bundes der Christen“ und anderen Mitarbeitern sprechen. Die Gespräche beschränkten sich damals auf das nordkoreanische Interesse an einem christlichen Dialog als Beitrag zur Überwindung der Konfrontation in Korea, die in der Tat auch heute noch das Thema des Dialoges ist. Andere Themen anzusprechen, scheint für die Vertreter des „Bundes der Christen“ entweder irrelevant oder schwierig zu sein. Die Teilung, die militärische Konfrontation und ihre Überwindung sind für sie die zentralen Lebensprobleme, deren sich Christen, dem Frieden und der Gerechtigkeit verpflichtet, weltweit annehmen müßten. Erst der zweite Besuch einer Delegation der „Kommission der Kirchen für internationale Angelegenheiten“ in P’yòngyang, an der aus Deutschland Gerhard Köberlin vom Hamburger Missionswerk teilnahm, ging über die offizielle Ebene hinaus und erlaubte, das Bild aufzufüllen, das sich über die Situation der Christen in Nordkorea durch die verschiedenen Kontakte gebildet hat, zumal Zahlen genannt wurden. Ich beziehe mich im folgenden auf den Bericht Gerhard Köberlins.[ii] Das Bild sieht wie folgt aus:

Der (evangelische?) „Bund der Christen“, bis heute einziger Gesprächspartner der Kirchen, wurde im November 1946 gegründet, um die Interessen der Christen, die nicht antikommunistisch waren, gegenüber der amerika- und kapitalismushörigen Kirchenpolitik der Nachkriegszeit zu verteidigen und die Christen nach der Gründung der KDVR im Jahr 1948 und dem Koreakrieg zur Mitarbeit am Aufbau bzw. Wiederaufbau eines autarken sozialistischen Staates zu mobilisieren. Der Bund identifiziert sich mit der Revolution in Nordkorea und ist im Kern regierungstreu. Ob er willens und fähig ist, eine eigene Stimme in die Politik einzubringen, ist eine offene Frage. Wie es aussieht, ist der Beitrag des Christentums zum Sozialismus vorläufig kein Thema für den Bund. Ein Zentralkomitee von 25 Personen und ein Mitarbeiterstab von 20 Personen leiten die Arbeit. Der Bund unterhält auf Orts- und Provinzebene Ausschüsse und hat, wie andere gesellschaftliche Organisationen, einen Sitz in der Volksversammlung.

Seit 1972 führt der „Bund der Christen“ in P’yòngyang theologische Kurse für Mitarbeiter durch, von denen bis 1987 10 ordiniert wurden. Nach neuesten Angaben soll die Gesamtzahl der Absolventen des Seminars Ende 1994 71 betragen haben, von denen die eine Hälfte als Pfarrer (minister), die andere Hälfte als Prediger (preacher) bezeichnet wird.[iii] Im ersten Förderungsantrag des „Bundes der Christen“ auf dem Leipziger Kirchentag 1997 an die EKD ist schließlich wiederum von 10 unterstützungsbedürftigen Postgraduates die Rede. Wenn die Zahlen stimmen, bedeutet das, daß ein Bedarf an Pfarrern besteht, dessen Herkunft und Natur schwer auszumachen ist. Die Pfarrer, die im Hauptbüro des Bundes in P’yòngyang mitarbeiten, sind gleichzeitig Lehrer in den Kursen. Außer ersten konfessionsgebundenen Kirchengebäuden, der evangelischen Bongsu- und Chilgok-Kirche, die überraschend 1983 und im Herbst 1988 in P’yòngyang errichtet wurden, und einer katholischen Kirche im November 1992 existieren nur Hauskirchen, also Familientreffpunkte für Gottesdienste. Ihre Zahl wurde 1987 mit 500 angegeben, was sehr wenig erscheint, und hat sich in den 10 Jahren bis zum Kirchentag in Leipzig, wo sie von den Delegierten des „Bundes der Christen“ in Nordkorea wiederholt wurde, nicht geändert. Die Entwicklung des Christentums würde somit stagnieren. Nach dem neuesten Erkenntnisstand handelt es sich bei den erwähnten Hauskirchen nur um Einrichtungen des „Bundes der Christen“, was ihre geringe Zahl verständlicher macht. Wie sie in den „Bund der Christen“ eingebunden sind, ist nicht bekannt. Wahrscheinlich stellt er ihnen auf lokaler Ebene Prediger zur Verfügung, die bei den Orts- bzw. Provinzausschüssen des Bundes angesiedelt sind. Ebenso wenig ist naturgemäß bekannt, ob es daneben weitere Hauskirchen gibt. Denn diese können angesichts des totalen Kontrollanspruches der Partei der Arbeit Koreas nur im Untergrund existieren.

Dem familiären Charakter der Hauskirchen entsprechend, wird man gewöhnlich durch die Eltern zum Christen. Erwachsenentaufe ist üblich. Missionstätigkeit im Sinne der gezielten Missionierung von Menschen scheint es andererseits nicht zu geben. Diesbezügliche, als „Mission nach Norden“ bezeichnete Pläne südkoreanischer Kirchen stoßen auf größtes Mißtrauen und wecken viele Ängste.[iv] Der Missionsbegriff des Bundes beschränkt sich auf den Dienst an der Öffentlichkeit und auf die Aufbauhilfe im Land, für welche seit neuestem die Unterstützung der verfaßten Kirchen in Deutschland, konkret der EKD, gewünscht wird.

Soziologisch betrachtet stehen viele evangelische Christen in akademischen Berufen oder haben höhere Ämter inne, wie zur Zeit meines eigenen Aufenthaltes in Nordkorea u. a. der Zweite Bürgermeister von P’yòngyang. Sie dürften vor allem in städtischen Zentren zu finden sein, weniger auf dem Land. Allein etwa 1.000 evangelische und 1.258 katholische Christen sollen 1991 in P’yòngyang registriert gewesen sein. Dementsprechend berichten Besucher dort auch von vollen Kirchen. Ein weiteres Zentrum ist die Hafenstadt Wònsan an der Ostküste Nordkoreas, wo es jedoch keine Kirchenbauten gibt.

An den zwei Hausgottesdiensten, die von der Delegation der „Kommission der Kirchen für internationale Angelegenheiten“ 1987 besucht wurden, nahmen 12 Christen mittleren und höheren Alters teil, während Jugendliche fehlten. Das könnte den Bedeutungsverlust des Christentums in der jüngeren Generation zumindest für den Zeitraum bis 1987 bestätigen. Sun Whan Lie erwähnt in ihrem Bericht von 1997 dasselbe Phänomen und führt es darauf zurück, „daß der atheistische Staat Kinder und Jugend von der Religionsgemeinschaft fernzuhalten“ versuche. Dagegen erklärten die Repräsentanten des Bundes der Christen ganz im Sinne der „Großen Erzählung“, man sei „nicht imstande, den Kindern, für die der soziale Staat in allen Belangen sorge, Besseres zu bieten“[v].

Den Besuch der von ihr erlebten Hausgottesdienste beziffert Sun Whan Lie mit etwa 15 Erwachsenen[vi]. Entspricht diese Größenordnung dem Durchschnitt, was angesichts der erheblich niedrigeren Teilnehmerzahl bei den von Gerhard Köberlin erlebten Hausgottesdiensten sehr unwahrscheinlich ist, umfaßt die Bevölkerungsgruppe der praktizierenden Christen ohne den Bund der Katholiken rd. 7500 Mitglieder - eine kaum ins Gewicht fallende Minderheit. Auch wenn diese in erster Linie städtisch und gebildet ist, steht ihre verschwindende Größe in bemerkenswertem Widerspruch zu dem Wohlwollen, das der Bund der Christen seitens des Staates erfährt und das in den erwähnten Kirchenneubauten sichtbar zum Ausdruck kommt. Man wird veranlaßt, über die Gründe dieses Wohlwollens nachzudenken.

Nach offiziellen Angaben verringerte sich die Zahl der Christen in Nordkorea seit 1945 und dem Korea-Krieg, als viele von ihnen in den Süden flohen, von 120.000 auf 10.000 Menschen. Von den 10.000 registrierten Christen sollen nicht 7500, sondern nur 6000 dem „Bund der Christen“ in Nordkorea angehören und sind damit als prokommunistisch und politisch auf der Linie der Partei liegend ausgewiesen. Das schließt, wie ausdrücklich betont sei, die Möglichkeit einer kritischen Distanz nicht aus, wenn christlicher Auftrag und Parteidenken in Konflikt geraten. Doch steht die Loyalität gegenüber dem herrschenden System im Vordergrund, wie die anfangs erwähnte Tendenz der Repräsentanten des Bundes zeigt, statements im Sinne der Parteidoktrin abzugeben.

Selbst die Zahl 6000 ist wahrscheinlich zu hoch gegriffen, bedenkt man die ungünstige Altersstruktur des Bundes und das Manko an jugendlichen Christen bislang. Auf alle Fälle stellt sich die Frage: Wer und wo sind die übrigen (mindestens) 2500 - 4000 Christen? Es ist für mich überraschend, daß offiziell 40% der Christen und möglicherweise Tausende mehr, die nicht erfaßt sind, dem „Bund der Christen“ fern stehen. Aus Nordkorea ehemals geflohene, konservative Kreise, die darauf warten, den wahren christlichen Glauben nach Nordkorea zurückbringen zu können, gehen von über 30.000 zurückgebliebenen Christen aus, was die Relation weiter verschlechtern müßte. Der „Bund der Christen“ ist damit zwar z. Z. der einzig mögliche Kandidat für eine Partnerschaft und politisch dominierend und einflußreich, jedoch für das Christsein in Nordkorea nicht unbedingt repräsentativ.[vii]

Angesichts der Tatsache, daß unsere Einblicksmöglichkeiten eng begrenzt sind, halte ich mich an die nordkoreanischen Angaben. Sie sind spannend genug. Warum, sage ich  mir, konnten oder wollten 40% der registrierten evangelischen Christen dem Bund der Christen nicht beitreten? Brachte ihnen die Mitgliedschaft im Bund keine Vorteile? War sie mit ihrem Verständnis von Christentum nicht vereinbar, oder ist die Mitgliedschaft im „Bund der Christen“ an die Erfüllung bestimmter Voraussetzungen gebunden und einer politischen Elite vorbehalten? Wie sieht ihr Leben als Christen abseits vom „Bund der Christen“ aus? Lauter spannende, für die Einschätzung des angestrebten Dialogs wichtige, aber bislang nicht zu beantwortende Fragen. Sie legen den Gedanken nahe, daß die nordkoreanische Gesellschaft am Ende doch nicht so monolithisch ist, wie sie dem Betrachter beim ersten Hinsehen erscheint.

Damit wächst die Chance für eine positive, kritisch solidarische Zusammenarbeit mit den Brüdern und Schwestern in Nordkorea. Denn selbst wenn aus politischen Gründen eine Partnerschaft zur Zeit nur mit dem „Bund der Christen“ möglich ist, darf man im Blick auf die vielen Ungewißheiten in dessen Umfeld davon ausgehen, daß zumindest Teile seiner Mitgliederschaft in einer Randzone politischen und christlichen Fragens leben und nicht bloß bornierte Funktionäre sind. So gälte es, Nachdenklichkeit bei jedem Gesprächspartner auf Verdacht zu vermuten, auch wenn dieser als zuverlässiger Parteigänger des Sozialismus eingestuft werden muß. Das ist mehr, als nur einen Beitrag dazu zu leisten, daß Nordkorea aus der Isolation herausfindet, in die es sich über Jahre hinweg teils gebracht hat, teils getrieben wurde. Es nimmt die andere Seite menschlich ernst und ist christlichem Denken angemessener.

 Anmerkungen: 

[i] Vgl. Chong Bong-Uk, (ed.), „North Korea: Uneasy, shaky Kim Jong-Il Regime“, Naewoe Press, Seoul 1997, S. 99

[ii] Der Bericht ist veröffentlicht in: Rainer Werning (Hrsg.), Nordkorea, Annäherungen an einen Außenseiter, Analysen - Berichte, Frankfurt/M.:1988.

[iii] Vgl. Chong Bong-Uk, S. 98

[iv] Vgl. Sun Whan Lie, „Nordkorea aus der Sicht einer Grenzgängerin“, Vortragsmanuskript EMS Stuttgart, 1997, S. 7

[v] Ebda., S. 5

[vi] Ebda., S. 5

[vii]  Vgl. Chong Bong-Uk, S. 101

Dieser Artikel basiert auf einem Referat, das Prof. Günter Freudenberg in Leipzig am 10. September 1997 gehalten hat.

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Stand: 22. April 2001, © Asienhaus Essen / Asia House Essen
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