Dezentalisierung in Thailand

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Michael H. Nelson
Der Autor ist Senior Research Fellow am King Prajadhipok Institute, Nonthaburi, Thailand. Er hat das Buch Central Authority and Local Democratization in Thailand (Bangkok: White Lotus, 1998) publiziert. Seine Thai Politics Bibliography ist im Internet unter http://www.leeds.ac.uk/thaipol zu finden; sie wird gegenwärtig revidiert. Der vorliegende Artikel beruht auf dem Zwischenbericht Local Government Reform in Thailand (Nonthaburi: KPI, 2000). Er ist zu beziehen via E-Mail mhnelson_kpi@hotmail.com.

Daß eine fundamentale Reform der Kommunalverwaltung Bestandteil des durch die Verfassung von 1997 in Gang gesetzten weitgehenden Umbaus des thailändischen Staates sein würde, war im Verlauf des im Jahr 1994 begonnenen Prozesses politischer Reform wenig wahrscheinlich. Keine der durch das Democracy Development Committee 1994 in Auftrag gegebenen „Studien" beschäftigte sich mit der Frage, ob eine durch Dezentralisierung der Staatsverwaltung aufgewertete kommunale Ebene wichtig sein könnte für die Entwicklung von Demokratie, für erweiterte Möglichkeiten politischer Teilnahme und für bessere öffentliche Dienste.

Es war daher nicht überraschend, daß die Kommunalverwaltung in den 1995 vorgelegten Empfehlungen der Kommission nur sehr kurz, oberflächlich und ambivalent (lokale Ebene als zu mißtrauendem Bestandteil hierarchischer Staatsstrukturen) erwähnt wurde. Selbst in dem im März 1997 von der Constitution Drafting Assembly (CDA) vorgelegten Bezugsrahmen für die in der zu schreibenden Verfassung anzustrebenden Strukturänderungen kam die Kommunalverwaltung - im Gegensatz zu vielen sehr detaillierten Vorschlägen für fast alle anderen wichtigen Bereiche (vorgeprägt durch die o. g. Studien) - praktisch nicht vor. Offenbar hatte die CDA, oder jedenfalls die Verfasser des für die Anleitung der in den Provinzen durchzuführenden öffentlichen Anhörungen gedachten Bezugsrahmens, gar keine Vorstellung von Kommunalverwaltung bzw. Dezentralisierung und deren Bedeutung für den Prozeß politischer Reform. Das Projekt ‘politische Reform’ selbst, einschließlich der neuen Verfassung, war das hochzentralisierte Unternehmen eines kleinen Kerns der meinungsbildenden Elite in Bangkok.

Umso erstaunlicher ist (und die CDA-internen Prozesse diesen Punkt betreffend bleiben zu untersuchen), daß ein früheres Mitglied der CDA zutreffend feststellen konnte: „Die Verfassung wird zu einer so weitgehenden und umfassenden Reform der Kommunalverwaltung führen, wie es sie bisher nicht gegeben hat." Es ist nicht übertrieben zu sagen, daß die nach der Verfassung vorgesehene Dezentralisierung nur mit dem Aufbau der zentralisierten Staatsverwaltung unter König Chulalongkorn Ende des vergangenen Jahrhunderts verglichen werden kann. Wesentlich sind in diesem Zusammenhang folgende Verfassungsbestimmungen:

-- Artikel 78 verpflichtet den Staat, Zuständigkeiten an lokale Einheiten zu übertragen, so daß diese ihre örtlichen Angelegenheiten unabhängig selbst regeln können. Darüber hinaus muß der Staat Provinzen, die für diesen Schritt bereit sind, in große Kommunalverwaltungsorganisationen umwandeln. Dabei hat er den Willen der Bevölkerung in Betracht zu ziehen.

-- Artikel 282 (das Kapitel 9 der Verfassung, d. h. die Artikel 282-290, sind der Kommunalverwaltung gewidmet) bestätigt die Dezentralisierungsverpflichtung sowie den Bezug auf den Willen der Bevölkerung. Im einzelnen legt er fest, daß lokale Einheiten ihre eigenen Rechte und Pflichten haben müssen und daß Autonomie die Bereiche Politikgestaltung, Verwaltung, Personal und Finanzen umfaßt. In einer für das offiziöse thailändische Staatsdenken bezeichnenden und wichtigen Einschränkung wird festgehalten, daß sich Dezentralisierung in dem durch Artikel 1 der Verfassung festgelegten Rahmen zu bewegen habe: „Thailand ist ein einheitliches und unteilbares Königreich."

-- Artikel 283 gibt „Lokalitäten", die ihre Fähigkeit zur Selbstverwaltung demonstrieren, das Recht, als Kommunalverwaltungsorganisationen anerkannt zu werden. Hierfür muß es ein besonderes Gesetz geben.

-- Artikel 284 fordert ein Gesetz, das die Zuständigkeiten zwischen Staat und Kommunaleinheiten (sowie zwischen diesen) aufteilt. Dieses Gesetz muß—Stufe für Stufe—ein Ablaufverfahren für die Dezentralisierung festlegen. Darin enthalten sein muß eine Aufteilung der Zuständigkeiten und der Steuern sowie die Einsetzung einer Kommission, die sich mit der weiteren Ausarbeitung dieser zwei Bereiche beschäftigen soll. Die Kommission muß aus einer gleichen Anzahl von Vertretern des Staates und der Kommunen sowie von Experten zusammengesetzt sein.

-- Artikel 285 bestimmt, daß lokale Einheiten gewählte Vertretungsorgane haben müssen, d. h. noch existierende Mischformen, in denen es auch ernannte Vertreter gab, waren aufzuheben. Bürgermeister können entweder aus den Reihen der lokalen Repräsentanten bestimmt oder von der Bevölkerung direkt gewählt werden. Nachdem der Municipal Act bereits entsprechend geändert wurde - konservative Kräfte befürchteten, die Direktwahl würde zur Forderung nach einem direkt gewählten Premierminister führen, was dann wiederum die Stellung des Königs in Gefahr bringen könnte -, wird die erste Direktwahl eines Bürgermeisters in Kürze stattfinden.

-- Die Artikel 286 und 287 führen Elemente direkter Demokratie ein. Dies betrifft die Abberufung gewählter Vertreter und die Möglichkeit, lokale Gesetze zur Annahme durch das Vertretungsorgan vorzuschlagen. Allerdings wurden die Hürden für die Realisierung beider Möglichkeiten schon in der Verfassung recht hoch gesetzt, so das sich die Umsetzung dieser Vorschrift wohl schwierig gestalten dürfte.

Schon manche Artikel selbst bzw. der Hintergrund ihres Zustandekommens in der CDA werfen Probleme auf. So gab es bis fast zum Ende des Formulierungsprozesses offenbar keine Verpflichtung des Staates, die Provinzen in Kommunaleinheiten umzuwandeln. Vielmehr sollte dies nur eine Möglichkeit künftigen Handels von Regierung und Parlament sein. Erst in letzter Minute wurde ein drei Buchstaben langes Wort aus dem Artikel gestrichen (von wem und warum?), was dessen Bedeutung in Richtung auf eine starke Verpflichtung veränderte. Auch die Bedeutung des Wortes „Provinz“ war schon in der CDA umstritten. Manche Mitglieder sahen dies bezogen auf eine weitgehende Auflösung der unter König Chulalongkorn eingeführten dekonzentrierten - d. h. bzgl. Verwaltungsaufgaben, Personal und Finanzen zentral gesteuerten - Territorialverwaltung auf Provinzebene. In diesem Kontext findet sich die schon seit einiger Zeit immer wieder einmal erhobene Forderung, Provinzgouverneure nicht mehr vom Innenministerium ernennen, sondern - wie den Gouverneur Bangkoks - von der Bevölkerung direkt wählen zu lassen. Damit wäre dann natürlich auch eine Reorientierung, vielleicht sogar eine Auflösung, der in den Provinzen bereits existierenden, aber sehr bedeutungsarmen, Kommunalverwaltung Provincial Administrative Organization verbunden. Andere dachten mehr an die in einer Provinz bereits existierenden Kommunalverwaltungseinheiten, die sich in irgendeiner Form zusammenschliessen sollten. Die Formulierung des Artikels hat diese Probleme nur übertüncht und die tatsdchliche Ausgestaltung dem zukünftigen Ausagieren zwischen den politisch relevanten Akteuren überlassen. Diesbezüglich sind bisher keine weiteren Bemühungen zu beobachten.

Ähnliches ist für die Bestimmung festzustellen, „Lokalitäten“ können nach eigenem Wunsch zu Kommunalverwaltungseinheiten gemacht werden. Erstens ist das Wort „Lokalitäten“ in der Verfassung selbst nicht definiert. Es ist daher nicht einfach, sich vorzustellen, welche Bevflkerungsgruppen das Recht auf Antragstellung haben und wie sich die von ihnen angestrebte Kommunalverwaltung zu den schon existierenden Formen im gleichen Gebiet verhalten soll (es gibt kein kommunalverwaltungsfreihes Gebiet auf dem Territorium Thailands). Zweitens muß man fragen, wie der Wille der Bevflkerung festgestellt werden könnte, durch ein Referendum?

Demgegenüber wurde das in Artikel 284 geforderte Gesetz, wenn auch zum Teil der Verfassung widersprechend (nach Einwendungen von konservativer Seite, die die staatliche Einheit Thailands bedroht sahen, wurde darauf verzichtet, die Zuständigkeiten von Regierung - die mit dem ‘Staat’ verwechselt wurde - und Kommunalverwaltung abzugrenzen), verabschiedet. Auch die Dezentralisierungskommission hat ihre Tätigkeit seit Anfang dieses Jahres aufgenommen. Allerdings findet ihre Arbeit unter fast vollständigem Ausschluß der Fffentlichkeit statt. Viele Entscheidungen werden in kleinen Arbeitsgruppen von Experten vorbereitet, die darin aufgehen, z. B. genau festzulegen, ob, in welcher Form und in welchem Umfang dörfliche Gesundheitsstationen weiterhin zentral aus Bangkok verwaltet oder in die Obhut der Kommunalverwaltung Sub-district Administrative Organization übergehen sollen. Auch die Auf- und Zuteilung Dutzender von Einnahme- und Steuerquellen ist von der Sache her eher für Experten zugänglich.

Natürlich gibt es nicht geringe Widerstände seitens der Ministerien. Sie fürchten nicht nur den erheblichen Machtverlust. Sie bezweifeln auch, daß die Lokalpolitiker und -verwaltungen über ausreichende Handlungsfähigkeit und Handlungswilligkeit in der Bewältigung von Sachpolitik und in der Dienstleistungserbringung verfügen. Und diese Befürchtung ist nicht aus der Luft gegriffen, betrachtet man die bisherige Arbeitsqualität von Kommunalverwaltungen. Auch die übliche Verbindung von Wahlen, demokratischer Responsivität, Effizienz und Dienstleistungsqualität ist für Thailand nur mit großem Vorbehalt anzuwenden. Lokalpolitik ist hoch exklusiv und im wesentlichen personenbezogenen Machtcliquen überlassen; politische Parteien gibt es in den Kommunen nicht. Beides macht es praktisch ausgeschlossen, daß sich normale Bürger ‘in der Politik’ engagieren und Zugang zu lokalpolitischen Entscheidungsprozessen erhalten. Als gleich nach der Verabschiedung der Verfassung die Provinz Samut Prakan als unmittelbar anstehender Kandidat für die Umwandlung in eine Kommunalverwaltung ins Spiel gebracht wurde, konnten auch Befürworter von Dezentralisierung nur sorgenvoll an die praktischen Konsequenzen denken. Was würde nämlich geschehen, wenn die Verwaltung der Provinzen von der Zentralgewalt nur in die Hände lokal einflußreicher politischer Bosse und ihrer Cliquen übergehen würde? Daß kann ja mit Demokratisierung und Effizienssteigerung durch Dezentralisierung nicht gemeint sein. Diesen Zustand haben wir aber bereits in einer großen Zahl der Stadtverwaltungen.

Mit der verpflichtenden Übertragung sehr erheblicher zusätzlicher Haushaltsmittel an die Kommunalverwaltungen ist unter diesen Umständen die Befürchtung verbunden, daß die bereits weitverbreitete Korruption zusätzlichen Auftrieb erhält. Schließlich befürchten die bisher von den Ministerien beschäftigten Staatsbeamten, daß nach ihrer Versetzung in die Kommunalverwaltungen nicht nur ihre Karriereaussichten sehr trüb aussehen, sondern auch, daß sie in ihrer Arbeit der politischen Willkür ihrer neuen Chefs, d. h. der Lokalpolitiker, ausgesetzt sein könnten.

Abschließend mag man bedauernd feststellen, daß es bei der Verfassungsentwicklung keine Überprüfung bzgl. der geeignetsten Ebene für territoriale Dezentralisierung gab. Vielleicht hätte man die Ebene auch offenlassen können. Fast automatisch wurde die Provinz gewählt, obwohl der Distrikt (dem deutschen Kreis vergleichbar) wohl passender gewesen wäre, weil seine Fläche kleiner ist (eine Provinz ist in eine Zahl von Distrikten unterteilt) und er näher an der Bevölkerung liegt. Auch hätte man in diesem Zusammenhang an eine Gebietsreform denken können.

Daß die Regionen nicht in den Blick gerieten, obwohl auch sie informelle Verwaltungseinrichtungen beherbergen und über eigene Identitdten verfügen, ist schon eher verständlich. Zu groß ist die Befürchtung, daß die in Artikel 1 der Verfassung zum obersten Grundsatz erhobene Einheitsstaatlichkeit des Landes durch traditionelle ethnisch-religiöse Zentrifugalkräfte zerstört werden könnte. Im Norden beispielsweise gibt es Autoren, die den nationale Zusammenschluß Thailands unter König Chulalongkorn für ihre Region („Lanna“) als Akt einer kolonialistischen Macht betrachten, die sie dann ihrer eigenen Sprache, ihrer Schrift und ihrer Kultur beraubt habe. Der Nordosten Thailands könnte ethnisch und sprachlich Teil des Nachbarlandes Laos sein. Und die vier südlichsten Provinzen sind malaiisch. Thailand wird dort von vielen als eine Art von Besatzungsmacht gesehen, und es gibt eine, wenn auch eher kleine, separatistische Bewegung. Unter diesen Umständen mag die Einführung einer regionalen Verwaltungsebene mit gewähltem Chef und Vertretungsorgan zwar theoretisch denkbar sein. Politisch und hinsichtlich des offiziösen siamesischen Staatsverständnisses aber sind solche Reformbemühungen sehr wenig vorstellbar. Aus dieser Perspektive führt schon eine Dezentralisierung der Provinzen zu der Befürchtung, daß sich die staatliche Einheit Thailands in viele unabhängige Kleinstaaten in den Provinzen auflösen könnte.

 

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Stand: 20. Dezember 2000, © Asienhaus Essen / Asia House Essen
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