Interview der Zeitschrift Mal mit Prof. Freudenberg

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Günter Freudenberg
Professor für Philosophie und Stifter der Asienstiftung (siehe auch im ausführlicher Lebenslauf).

 „Mit dem Tod von Isang Yun geht ein hektisches Jahr zu Ende. Nun ruht er als eine Handvoll Asche, nicht in Korea, sondern auf einem Friedhof in Berlin. Ich weiß nicht, ob man später verstehen wird, warum sein Heimatland Korea ihm gegenüber so engherzig war, obwohl er sonst überall auf der Welt als großer Meister der europäischen Klassik geehrt wurde. Wann wird ein solch unerklärliches Phänomen endlich verschwinden?“

Mit dieser Frage beginnt eine Weihnachtskarte, die Prof. Freudenberg am 9.12.1995 schrieb.

Chòng: Günter Freudenberg wurde 1923 in Mannheim, im Süden Deutschlands, geboren. 1988 wurde er als Professor der Philosophie an der Universität Osnabrück emeritiert. Die Verbindung zu Korea knüpfte er durch die Begegnung mit Isang Yun im Jahre 1960. Seit der Gründung des „Korea-Komitees“ 1977 stand er an der Spitze der Solidaritätsbewegung für Korea in Deutschland, die die Menschenrechte und die Demokratiebewegung in Korea unterstützte. Im Moment ist er als Ehrenvorsitzender der Asienstiftung und des Korea-Verbands e.V. tätig. Die Asienstiftung, die Trägerin des Asienhauses in Essen ist, gründete er mit Hilfe seines privaten Vermögens.

Erste Begegnung mit Korea

Chòng: Guten Tag, was führte Sie nach Korea?

Freudenberg: Ich bin hier auf Einladung von Herrn Lee Chang-Bok, dem Vorsitzenden der Nationalen Allianz für Demokratie und Wiedervereinigung in Korea (NADRK).

Chòng: Nach meiner Information ist Professor Freudenberg als Empfänger des Dankespreises der NADRK eingeladen worden, der am Jahrestag der nationalen Befreiung, dem 15. August 1998, verliehen wird. Dieser Preis ist als Dank für die Personen gedacht, die sich „besondere Verdienste beim Kampf für Demokratie, die Anerkennung der Menschenrechte und die Wiedervereinigung Koreas erworben haben“. Zum ersten Mal geht dieser Preis an zwei Ausländer, Professor Freudenberg und den japanischen Pastor Yosimatzu Sigaeru. Für Professor Freudenberg war es nicht einfach, diese Reise anzutreten, weil seine Frau Ursula kurz vor seiner Abreise eine Hirnblutung erlitten hatte, und er in dieser schweren Zeit seine Frau nicht allein lassen mochte. Er erkannte aber die Bedeutung dieser besonderen Ehrung und reiste für neun Tage nach Südkorea. An dem Tag des Interviews erhielt er die gute Nachricht, daß es seiner Frau besser ginge, so daß er mir mit einem freudigen Gesicht gegenübersaß.

Chòng: Dieser Dankespreis bedeutet, daß Ihre Arbeit in Deutschland vom südkoreanischen Volk anerkannt worden ist. Wie fühlen Sie sich?

Freudenberg: Ich denke, daß dieser Dankespreis nicht nur für mich persönlich ist. Ich empfange ihn stellvertretend für alle, die in Deutschland für Demokratie und Menschenrechte in Korea gekämpft haben. Vor allem gebührt dieser Preis den Koreanern und Koreanerinnen, die für die Demokratie ihres Heimatlandes viele persönliche Opfer gebracht haben. Der Preis freut mich, weil er bestätigt, daß unsere Solidaritätsarbeit sinnvoll und nicht nur für uns selbst da ist.

Chòng: Wie und wann fand Ihre erste Begegnung mit Korea statt?

Freudenberg: Ich glaube, es war 1960, direkt nach dem Sturz Rhee Syngmans. Damals leitete ich in Zusammenarbeit mit der Universität Freiburg ein Internationales Seminar, an dem Isang Yun als Stipendiat teilnahm. Er war damals noch ein unbekannter Komponist. Eines Tages kam er in mein Zimmer und bat mich, ihm einen Kassettenrecorder auszuleihen. An meinem Schreibtisch begann er dann, seine eigene Stimme aufzunehmen. Es war, wie ich später erfuhr, ein Appell an die Landsleute in seiner Heimat. Er bat sie darum, daß sie die neue demokratische Regierung von Chang Myon, die nach der Abdankung des Präsidenten Rhee Syngman eingesetzt worden war, aktiv zu unterstützen. Ich weiß nicht, ob die Aufnahme an einen Sender oder einen seiner Freunde gesandt wurde. Auf jeden Fall lernte ich durch diese Begegnung mit Isang Yun erstmals etwas von Korea kennen und interessierte mich von da an für koreanische Politik und Kultur. Diese Begegnung markierte den Beginn einer Liebe, die mich mein Leben lang mit Korea verbinden sollte. In der Anfangszeit war ich lediglich als Freund Isang Yuns an den Problemen Koreas interessiert, aber nicht selbst in der Solidaritätsbewegung politisch aktiv. Den Anlaß zu einem ersten Besuch nach Südkorea gab die „Ostberliner Affäre“. Es war für mich selbstverständlich, daß ich mich für die Rettung meines besten Freundes einsetzte, nachdem er und seine Frau plötzlich nach Südkorea verschleppt worden waren. Die damalige Regierung in Deutschland interessierte sich erst nach großem nationalen und internationalen Druck für das Schicksal der entführten Personen. Sie ermöglichte es mir dann, als Zeuge am Revisionsverfahren gegen Isang Yun teilzunehmen und es zugleich zu beobachten. Auf diese Weise gelangte ich 1968 nach Südkorea. Ich glaube, daß mein Besuch damals für die aus Deutschland verschleppten koreanischen Freunde und deren Familien ein großer Trost gewesen ist.

Chòng: Die Wahrheit über die Ostberliner-Affäre ist noch nicht gänzlich ergründet. Dieses Ereignis damals verursachte bei den einzelnen Betroffenen und deren Familienmitgliedern einen großen Schock. Durch die Entführung beider Elternteile waren z.B. die Kinder von Isang Yun, die noch sehr jung waren, plötzlich auf sich allein gestellt. Eine Zeit lang wußten sie nicht, wo ihre Eltern waren und ob sie überhaupt noch am Leben waren. Die Ostberliner-Affäre schwebte noch lange Zeit wie ein schrecklicher Fluch über dem Leben koreanischer Studenten und Studentinnen in Deutschland. Der Militärdiktatur ihres Heimatlandes gegenüber kritisch eingestellte Studenten mußten sich bei jeder politischen Äußerung der Gefahr bewußt sein, „einer Verbindung zu Nordkorea“ verdächtigt zu werden. Die Folgen waren für den Betroffenen so verheerend, daß keiner es wagte, ernstlich Sorgen bezüglich seiner Heimat zu äußern.

Erinnerungen an Isang Yun

Chòng: Die Begegnung mit Isang Yun war also der indirekte Anlaß für Sie, sich aktiv am Kampf für die Demokratisierung Südkoreas zu betätigen. Was für ein Mensch war Isang Yun Ihrer Meinung nach?

Freudenberg: Er blieb immer ein Koreaner, obwohl er die deutsche Staatsangehörigkeit besaß. Er fühlte sich fremd und litt stets unter Heimweh, zumal er, so sehr er es sich auch wünschte, nie in seine Heimat zurückkehren durfte. Vielleicht war er unter einem besonders traurigen Stern geboren. Er versuchte eine Brücke zwischen den unterschiedlichen Kulturen zu schlagen, wodurch er sich dann wahrscheinlich noch einsamer fühlte. In seinem musikalischen Werk wollte er nicht asiatische und europäische Musik „zusammenzumischen“. Ich glaube, daß ihm eine höherrangige „musikalische Sprache“ vorschwebte, die die Kommunikation zwischen östlicher und westliche Musik unter Wahrung der jeweiligen Eigenart erlauben sollte. Möglicherweise klingen seine Kompositionen darum so fremd für Ohren, denen entweder die westliche oder östliche bzw. koreanische klassische Musik vertraut ist. Trotzdem ist er heute als einer der herausragenden Komponisten der Moderne anerkannt. Vor 10 Jahren gab es eine Umfrage unter Orchestermitgliedern in Westdeutschland. Es ging um die Benennung der zehn hervorragendsten Komponisten der Nachkriegszeit. Isang Yun war unter diesen ausgewählten 10.

Chòng: Ging es um die besten Komponisten innerhalb Deutschlands?

Freudenberg: Nein, es ging um zehn Komponisten von Weltrang. Isang Yun genoß als Komponist internationalen Ruf. Er war insofern sehr erfolgreich.

Chòng: Trotz der internationalen Anerkennung und ungeachtet seiner musikalischen Verdienste gibt es in Südkorea die Tendenz, ihn wegen seiner Beziehung zu Nordkorea schief anzusehen.

Freudenberg: Wie ich bereits erwähnt habe, war und blieb Isang Yun im Herzen immer Koreaner und sehnte sich nach seiner Heimat. Er konnte aber aufgrund seiner politischen Diskriminierung nicht nach Südkorea reisen. Nordkorea aber hieß ihn willkommen. Außerdem glaubte er an eine gesellschaftsverändernde Rolle der Musik. In Südkorea begann man langsam von seiner Musik Notiz zu nehmen, und in Nordkorea errichtete man sogar ein Institut, das seinen Namen trägt, und wo sein Werk gesammelt, studiert und aufgeführt wird. Möglicherweise ließen solche Tatsachen ihn von einer  Versöhnung Süd- und Nordkoreas mit Hilfe der Musik träumen. Das generelle Niveau der nordkoreanischen Musik war, wie soll ich sagen, stalinistisch konservativ. In Südkorea steckte die eigenständige Verarbeitung der Errungenschaften der neuzeitlichen Musik noch in den Kinderschuhen. Also träumte Isang Yun davon, mit der Verbreitung seines Werkes in Nord- und Südkorea den Grundstein einer nationalen musikalischen Erneuerung zu legen. Ich habe bereits erwähnt, daß er eine neue, reichere Musiksprache im Blick hatte, in der östliche und westliche Elemente auf höherem Niveau dialektisch zusammenwirken sollten. Ebenso wollte er vielleicht in seinem Werk eine Nationalmusik schaffen, die sowohl in Süd- als auch in Nordkorea verstanden wird und die Wiederherstellung der Einheit auf kulturellem Gebiet erleichtert.

Chòng: Wir kommen noch mal zurück zur Solidaritätsbewegung. Wann war es, als Sie ernsthaft mit den Aktivitäten für die unterdrückten Volksmassen in Korea, das Minjung, begannen?

Freudenberg: Als Isang Yun nach seiner Entführung wieder nach Deutschland zurückkehrte, lebte eine Zeit ziemlich zurückgezogen, wahrscheinlich wegen des Traumas, das er erfahren hatte. Es passierte dann etwas, das ihn aus seiner Verschlossenheit herausriß. Es war die Entführung von Kim Dae-jung aus Tokyo am 8. August 1973. Es folgten die Verhaftung von Kim Chi-ha und dessen Verurteilung zum Tode, was die Menschen auf der ganzen Welt auf die Geschehnisse in Südkorea aufmerksam machte. 1974 fand eine internationale Konferenz in Tokyo statt, die die Probleme in Südkorea zum Thema hatte. Ich nahm daran teil und sah von da an meine Aufgabe darin, der deutschen Gesellschaft und auch der Weltöffentlichkeit die wahre Situation in Südkorea darzustellen. Zu der Zeit arbeiteten, sehr vorsichtig, einige koreanische Intellektuelle, überwiegend Studenten und Studentinnen, in Deutschland und in Europa, die die autoritäre Politik von Präsident Park Chung Hee bekämpften. Diese Situation als Hintergrund, gründeten wir 1977 das Korea-Komitee. Die Gründungsmitglieder waren hauptsächlich Deutsche. Vor der Gründung des Korea-Komitees war ich im Rahmen von amnesty international bei der Betreuung koreanischer politischer Gefangener aktiv, die zu den Aufgaben der einen oder anderen Gruppe zählte. Als Kim Dae-jung entführt wurde, merkte ich, daß es einer anderen Solidaritätsarbeit bedurfte. Um die Demokratiebewegung des koreanischen Minjung zu unterstützen, war eine durchorganisatorisch politische Arbeit notwendig, die über die Betreuung politischer Gefangener hinausging.

So entstand das Korea-Komitee, und ich übernahm den Vorsitz. Bis zu seiner Überführung in den heutigen Korea-Verband e.V. im Jahr 1994 gehörte ich ununterbrochen dem Vorstand an. Außer Deutschen waren von Anfang an auch Koreaner und Koreanerinnen sowie koreanische Vereine im Korea-Komitees organisiert. Die vordringlichen Aufgaben des Korea-Komitees waren: Die Unterstützung der Protestbewegung innerhalb und außerhalb Koreas gegen die Militärdiktatur in Südkorea und Hilfe bei der Lösung der Wiedervereinigungsfrage. Um Druck für die Aufnahme von offiziellen Gesprächen zwischen Nord- und Südkorea auszuüben, planten wir 1979 eine internationale Konferenz in Genf, auf der Regierungsvertreter aus Nordkorea und Delegierte auslandskoreanischer politischer Organisationen aller ideologischen Richtungen neue Schritte in der Wiedervereinigungsfrage beraten sollten. Präsident Kim Il Sung stimmte dem zu. Aber infolge der Ereignisse vom 26. Oktober 1979, der Ermordung von Präsident Park, kam diese Konferenz nicht zustande.

Chòng: Man wird mit Skepsis betrachtet, wenn man Kontakte zu Nordkorea knüpft, auch wenn es um die Wiedervereinigungsfrage geht. Insbesondere wegen der Gefahr, daß die Demokratiebewegung im Ausland der Verleumdung zum Opfer fällt, eine enge Beziehung zu Nordkorea zu unterhalten. Solche Aktivitäten könnten sich daher schädlich für die Demokratiebewegung innerhalb Südkoreas auswirken. Ist es unter diesen Umständen nicht denkbar, daß Ihr Nordkorea-Besuch von 1979 eher das Gegenteil hat, als der Demokratiebewegung in Südkorea zu dienen? Was meinen Sie?

Freudenberg: Der Besuch von 1979 erfolgte im Rahmen der Vorbereitung der oben erwähnten Konferenz. Ich habe in diesem Zusammenhang mit Präsident Kim Il Sung ein langes Gespräch geführt. In den Jahren danach habe ich mehrfach Einladungen erhalten, besuchte das Land aber nie wieder, weil ich keinen Anlaß dazu sah.

Es ist schade, daß der Handlungsspielraum des neuen Präsidenten zu eng ist

Chòng: Südkorea hat zum ersten mal in seiner 50jährigen Geschichte einen Regierungswechsel durch Wahlen erreicht. Wie beurteilen Sie diesen Wechsel?

Freudenberg: Die Bedeutung des Regierungswechsels bemißt sich nicht nur an der Tatsache, daß erstmals die Opposition die politische Macht erlangt hat. Einen Wechsel der politischen Macht gab es bereits durch die Präsidentschaft von Kim Young-sam, oder nicht? Der wirkliche Wechsel betrifft meiner Meinung nach die Frage, wie weit künftig die breite Masse der demokratischen Kräfte an den politischen Veränderungen und Reformen beteiligt sein wird. Kim Dae-jung ist zwar Präsident, aber er konnte sich die Mehrheit im Parlament nicht sichern. Es tut mir leid, daß er viele von seinen Wahlversprechen nicht einlösen kann, weil er nicht genügend Sitze im Parlament besitzt. Die Erwartungen, die wir im Ausland mit dem Antritt der Regierung Kim Dae-jung verbanden, erfüllten sich nur in sehr geringem Maße. Geahnt habe ich dies bereits bei der Amnestie anläßlich seiner Amtseinführung im Februar, als nur eine kleine Anzahl von politischen Gefangenen, ganz abgesehen von den  Langzeitgefangenen, freigelassen wurde. Der Präsident ist jetzt neu, aber die politischen Strukturen sind konservativ und verfilzt wie eh und je, so daß die Bewegungsfreiheit des Präsidenten sehr eingeengt ist. Koreaner und Koreanerinnen im Ausland bedauern dies sehr. Sie wissen, daß sich während der vergangenen 40 Jahre die Strukturen von Bürokratie und Macht verfestigt haben und daher ein neuer Präsident nur wenig entscheidend bewegen kann, solange diese Strukturen weiterbestehen.

Chòng: In der Tat war nur die Person Kim Dae-jung „vorbereitet“ auf sein Amt als Präsident. Sonst scheint nichts und niemand auf das, was nach der Wahl kam, vorbereitet gewesen zu sein, weder die Partei noch die Regierung. Kann ein neuer Präsident, der sich mit einem alten System arrangieren muß, die vielfältigen Reformaufgaben bewältigen, die von allen Seiten der Gesellschaft gefordert werden?

Freudenberg: Als ich die Stadt Kwangju besuchte, hatte ich die Gelegenheit, mit dem 2. Bürgermeister [gemeint ist wohl der Vize-Bürgermeister Kim Tae-hong, d. Interwiever] zu sprechen. Er sagte, daß die politische Situation Südkoreas gerade durch die Verquickung mit der IMF-Wirtschaftskrise nicht einfach zu lösen sei. Diesen Standpunkt halte auch ich für wichtig, so daß ich mich ganz vorsichtig an das Problem heranwagen möchte. In Kwangju hörte ich, daß der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft [gemeint ist wohl Yun Yòng-gyu, d. Interwiever] der lange Zeit seinen Beruf nicht ausüben durfte, wieder als Lehrer arbeitet, und die vorgesehene Legalisierung der Lehrergewerkschaft mit Jahreswechsel vonstatten gehen wird. Solche Nachrichten lassen mich fühlen, daß die Reform sehr langsam, aber doch voranschreitet. Wenn der Präsident sein Reformprogramm beharrlich und entschlossen vorantreibt, kann sich die Situation allmählich bessern. Es wird ganz konkret darauf ankommen, ob das alte politische System, dessen Vertreter immer noch die wichtigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Positionen innehaben, die Macht besitzt, fällige Veränderungen zu verhindern. Wie schwer diese Aufgabe ist, zeigt aktuell der Widerstand, der sich gegen die Reform der großen Industriekonglomerate, der Chaebòl, richtet.

Chòng: Meinen Sie damit etwa, daß der Regierung Kim Dae-jung das gleich Schicksal zuteil werden wird wie der von Kim Young-sam? Die Regierung Kim Young-sam scheiterte nämlich eben daran, Reformen durchzuführen ohne das System zu ändern.

Freudenberg: Ich glaube das nicht, und ich hoffe sehr, daß es diesmal anders wird. Der Präsident Kim Dae-jung kann einen anderen Weg gehen. Er steht an einem Scheidepunkt. Die durch das IMF-Krisensystem verursachte schwierige Situation sozialer Spannungen und sich verschärfende Konflikte könnten Kim Dae-jung dazu verleiten, die Staatsmacht noch zu verstärken. Die andere Option ist die, die er selbst des öfteren erwähnt hat und sich nun zu eigen zu machen sucht. Ich denke an seine unermüdlichen Bemühungen um eine „gemeinsame“ Lösung der Probleme. Um diese zu erreichen, muß die Demokratie in allen Bereichen der Gesellschaft ausgeweitet und auf eine breite Basis gestellt werden. Die Gewerkschaft muß als rechtmäßiger gleichwertiger Partner anerkannt, und die Suche nach Wegen aus der ökonomischen und sozialen Krise mit Hilfe des Dreiergesprächs „Arbeiternehmer-Arbeitgeber-Regierung“ noch stärker vorangetrieben werden. Den Koreanern und Koreanerinnen, die durch die Auflagen des IMF viel Besitz verloren haben, werden es als Entschädigung erleben, wenn die demokratischen Rechte und Möglichkeiten in der gesamten Gesellschaft verstärkt werden -  nach dem Motto: „Der Standard des Konsums ist zurückgeschraubt worden, aber dafür haben wir einen neuen Standard politischer Freiheit und Rechte gewonnen“. Sollte der Präsident sich nach dem Motto: „Um mehr Auslandskapital ins Land zu holen, braucht man eine stärkere Staatsmacht, damit ein sicherer und stabiler Investitionsboden garantiert wird“ für die erste Option entschließen, dann wird dies tragische Konsequenzen nach sich ziehen.

Chòng: Haben Sie bei Ihrem jetzigen Besuch die IWF-Krise gespürt? Was ist anders geworden durch den IWF?

Freudenberg: Erschreckt war ich über die auffällig vielen Obdachlosen. Am Abend in den Wartesälen der Bahnhöfe oder in den Gängen der U-Bahn-Stationen habe ich sehr viele Obdachlose entdeckt. Für besonders bedenklich halte ich die soziale Kluft zwischen arm und reich, die sich, wie mir scheint, noch mehr vergrößert hat. Früher sah man die Armen nur, wenn man ins Armenviertel ging. Nun sitzen sie auf den Straßen. Auf der anderen Seite verbringen junge Menschen ihre Zeit in Cafés oder in ähnlichen Einrichtungen, nach der letzten Mode gekleidet und teuere Getränke genießend. Hier ist nach wie vor üppig Geld vorhanden. In der Stadt existieren zwei Klassen von Menschen. Man spürt das soziale Konfliktpotential viel deutlicher als früher.

Rat eines Internationalisten

Chòng: Wie sind die Meinungen im Ausland über Südkorea, das sich nun unter der IWF-Verwaltung befindet.

Freudenberg: Die notwendig gewordene Finanzhilfe des IWF hat zunächst einmal den Mythos vom „Wachstumsmodell Südkorea“ zerstört, das nicht nur in den Ländern der Dritten wElt Bewunderung und Neid hervorgerufen hatte. Aber die Krise kam weder unerwartet noch unverschuldet. Das übermächtige Monopolsystem der Chaebòl, die allzu enge Verbindung zwischen Politik und Wirtschaft und die staatliche Einmischung im Finanzsystem waren schon immer Kritikpunkte der progressiven Kräfte im Ausland. Trotz der Größe der Reformaufgaben sind wir im allgemeinen davon überzeugt, daß Südkorea seine schwierige Lage erfolgreich meisten und letzten Endes gestärkt aus ihr hervorgehen wird. Nicht nur verfügt das Land über ein hohes Bildungsniveau und eine bekannt fleißige Arbeiterschaft, sondern auch über eine große Bereitschaft der Bürger und Bürgerinnen, sich mit dem Staat zu solidarisieren. Das hat der Aufruf zu Goldspenden gezeigt. Es hat im Ausland großen Eindruck hinterlassen, in welchem Ausmaß ihm Folge geleistet wurde. Positiv fällt auch die neue Art von Vereinbarungen zwischen Teilen der organisierten Arbeiterschaft und dem Kapital ins Gewicht. Sie werden als ein Beitrag zu den Bemühungen des Staates verstanden, die Wirtschaftskries zu überwinden.

Chòng: Sie sprechen von Dreiergesprächen. Diese Form der ökonomischen Krisenbewältigung ist ein Modell, das in Deutschland und den Niederlanden erfolgreich praktiziert wird. Meinen Sie, daß es auch in Südkorea erfolgreich angewandt werden kann?

Freudenberg: Ich denke, daß es ein z. Z. Experiment ist, das die Regierung Kim Dae-jung zu machen gezwungen ist. Um solche partnerschaftlichen Vereinbarungen zu ermöglichen, ist es freilich notwendig, zunächst ein politisches Gleichgewicht zwischen den beteiligten Kräften zu schafffen. In der Realität haben die Chaebòl zu viel Macht, so daß ihre Entflechtung eine Bedingung für Fortschritte bei der Sanierung des ökonomischen Systems und eine  vordringliche Aufgabe ist. Sie kann letztlich nur politisch gelöst werden. Das ist das Problem.

Chòng: Sie sind als Gast zum Jahrestag der Befreiung am 15. August eingeladen worden. Eine gemeinsame Feier in P’anmunjòm mit Beteiligung von Nord- und Südkoreanern, die von beiden Seiten in Aussicht gestellt wurde, scheint doch nicht zustande zu kommen. Warum, meinen Sie, ist es nicht möglich?

Freudenberg: Für ein Feier mit breitem Rückhalt ist eine Position, die radikal links orientiert ist, genauso schädlich wie eine radikal rechte Position. Derartige Einstellungen können keine Veränderungen in den Beziehungen zwischen Süd- und Nordkorea herbeiführen. Nicht nur unrealistische Forderungen des Nordens, sondern auch verkrustete Ansichten bei Teilen des linken Lagers im Süden, waren Faktoren, die die Durchführung einer gemeinsamen Veranstaltung verhindert haben.

Chòng: Die Solidaritätsbewegung in Deutschland weist nun eine fast 25jährige Geschichte auf. Wie beurteilen Sie selbst Ihre Arbeit?

Freudenberg: Von den Organisationen in Deutschland, die sich einmal mit emanzipativen Bewegungen in Ländern und Gesellschaften des Südens solidarisiert haben, gehören die heutigen koreanischen politischen Organisationen und der Korea-Verband zu den vergleichsweise wenigen, die bis heute überlebt haben. Der Grund könnte in der pragmatischen Einstellung zu ihrer Arbeit und in ihrer Reformfähigkeit liegen. Die Korea-Solidaritätsarbeit erfolgte lange Zeit dezentralisiert. Die regionalen Solidaritätsgruppen und sonstigen Aktivitäten waren im Korea-Komitee miteinander vernetzt, aber in ihren Aktivitäten autonom. Aufgrund ihrer Vernetzung konnten sie einheitlich politisch reagieren und zugleich auf relativ breiter Basis kritische Öffentlichkeit mobilisieren, z.B. als Kim Dae-jung vom Militärregime unter Chun Doo Hwan zum Tode verurteilt wurde, oder als sich 1980 der Aufstand in Kwangju ereignete. Historisch betrachtet, war der Effekt unserer Arbeit vermutlich gering. Dennoch glaube ich, daß sie im konkreten Einzelfall zur Demokratisierung Südkoreas beigetragen hat. Außerdem haben wir dafür gesorgt, daß die Probleme Koreas in der deutschen Öffentlichkeit nicht nur aus Regierungssicht diskutiert wurden.

Chòng: In Südkorea wurde jetzt nach 50 Jahren zum ersten Mal durch einen friedlichen Regierungswechsel auch das Problem mit der Demokratie gelöst. Meinen Sie nicht, daß die Korea-Solidaritätsbewegung neu definiert werden muß?

Freudenberg: Die Demokratiesierung des politischen Systems und der Gesellschaft Südkoreas kann keinesfalls als abgeschlossen gelten. Insofern ist unsere Unterstützung der Demokratiebewegung weiterhin wichtig. Aber sie haben recht. An die Stelle der Solidarität mit Korea muß eine Beziehung der Gegenseitigkeit treten. Aus Solidaritätsarbeit muß Zusammenarbeit auf NGO-Ebene werden. Wichtig wäre es beispielsweise, Probleme wie den Umweltschutz oder die Immigration oder die Wahrung der Menschenrechte als gemeinsame Probleme zu definieren und sich in interkultureller Zusammenarbeit um eine alternative Politik zu bemühen. Es wäre nützlich, kritische Worte zu der Entwicklung der deutschen Gesellschaft aus dem Munde koreanischer Intellektueller zu hören. Eine kritische Auseinandersetzung koreanischer Intellektuelle mit dem Ablauf der deutschen Wiedervereinigung wäre sicher von großer beiderseitiger Bedeutung. Die Zeit ist reif für eine Beziehung, die beide Seiten in die Pflicht nimmt. Für eine solche neue Zusammenarbeit halte ich eine aktive Beteiligung der koreanischen Intellektuellen für notwendig, die in Deutschland studiert haben.

Unser Gespräch endet hier. Zum Schluß fragte ich Professor Freudenberg, ob er noch etwas hinzufügen möchte. Einen kurzen Moment lang dachte er nach, und bat dann lächelnd, daß die Kritik, die er heute geäußert habe, als ein „Rat unter Freunden“ freundlich aufgenommen werden möge, denn sie komme von einem Freund Koreas, der das Land, die Menschen und das Essen Koreas zu lieben und zu schätzen gelernt habe.

Nach unserer koreanischen Zählweise ist Professor Freudenberg jetzt 76 Jahre alt. Ich bete von ganzem Herzen, im Hinblick auf sein faltenreiches Gesicht, daß sein kleiner bescheidener Wunsch in Erfüllung gehen möge. Denn er möchte das nächste Mal mit seiner wieder genesenen Frau zusammen Korea besuchen. Hoffentlich kann er das verwirklichen...

Das Interview wurde von Chòng Pòm-gu, einem bekannten Fernsehjournalisten in Südkorea, am 11. Juli 1998 im  Cafè des Hotels „Metro“ in Seoul geführt. Der Text des Interview wurde in Mal 9, 1998, S. 57-61 veröffentlicht.

Übersetzung: Frau Sunok Schulz, Bremen.

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Stand: 18. April 2001, © Asienhaus Essen / Asia House Essen
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