Verbundenheit und Verantwortung – Indigene Wissenssysteme in Südostasien
Indigen bedeutet „an einem bestimmten Ort zu Hause“. Als Indigene werden Bevölkerungsgruppen bezeichnet, die seit langer Zeit im selben Naturraum leben oder vor ihrer Vertreibung gelebt haben. Sie haben eine meist eng an die natürliche Umwelt angepasste Lebensweise beibehalten. Indigene Wissenssysteme (Indigenous Knowledge Systems, IKS) sind folglich durch die Interaktion von Menschen und Umwelt von indigenen Gemeinschaften entwickelt und von ihnen über Generationen weitergegeben worden.
Während der Kolonialisierung des Globalen Südens – und zuvor während der Zerstörung indigener Lebensweisen in Europa selbst – sind Machtstrukturen entstanden, die auf der Trennung und Ausbeutung von Land und Menschen basieren. Indigene Wissenssysteme wurden ignoriert und marginalisiert. Unter dem Postulat der „Moderne“ galt Urbanisierung und Industrialisierung als erstrebenswertes „Weltmodell“.
Unsere aktuelle Lebenswelt ist ein Resultat dieser Machtstrukturen. Sie ist von globalen Krisen, ökologischer Erschöpfung und sozialer Ungleichheit geprägt. Diese Missstände sind das Ergebnis einer lebensfeindlichen Praxis, die auf Kapitalakkumulation basiert und dafür Kriege, Klimawandel und den Kollaps von Ökosystemen in Kauf nimmt.
Angesichts der in breiteren Bevölkerungsschichten zunehmenden Einsicht, dass Wachstum auf einem begrenzten Planeten nicht unbegrenzt sein kann, wird die Frage dringlicher: Wie können wir unsere Welt wieder lebensfreundlich und damit zukunftstauglich gestalten? Indigene Stimmen finden hierbei zunehmend Gehör.
Indigene Wissenssysteme basieren (im Gegensatz zur dominanten „modernen“ Weltsicht, die auf eurozentrischen Wissenschaftssystemen und Technologien fußt) auf einem Grundverständnis, das von gegenseitiger Verbundenheit und Verantwortung ausgeht. Wissen entsteht demnach aus Erfahrung, Beobachtung und der Achtung natürlicher Kreisläufe – und nicht aus Kontrolle oder Aneignungen.
In Zeiten globaler Klimaverhandlungen und wachsender Debatten um „nature-based solutions“ gewinnt die Frage nach der Anerkennung und auch der Vereinnahmung indigenen Wissens neue Brisanz. Bekannte Beispiele für indigene Praktiken in Fragen der Landnutzung, Biodiversität und sozialen Organisation sind die Reisanbausysteme der Ifugao (Philippinen), die Waldpraktiken der Dayak (Indonesien) oder die spirituelle Beziehung zu Wasser bei den Karen (Thailand/Myanmar).
Indigenes Wissen ist dynamisch. Das bedeutet, es passt sich veränderten Umweltbedingungen und sozialen Herausforderungen an. Die Anerkennung und Einbeziehung indigenen Wissens kann somit nicht nur punktuelle Lösungsansätze bieten, sondern den Anstoß geben, unsere auf der Trennung von Menschen und Umwelt basierenden Wissenssysteme grundsätzlich neu zu verhandeln.
Diese Ausgabe der südostasien will die Vielfalt und die Ganzheitlichkeit indigenen Wissens als lebenserhaltende Praxis in den Blick nehmen. Dabei geht es nicht um die Romantisierung indigener Gemeinschaften. Im Sinne des Selbstverständnisses der südostasien suchen wir Antworten auf die Frage, wie wir – im Kontext globaler Krisen – indigenes Wissen neu denken, praktizieren und kommunizieren können.
Mögliche Fragestellungen für Artikel können sein:
- Welche lebenserhaltenden Erfahrungen und Impulse können indigene Menschen aus ihrer Alltagspraxis vermitteln?
- Wie geschieht die Vermittlung dieser Erfahrungen in indigenen Bevölkerungsgruppen selbst, aber auch „nach außen“? Wie drückt sie sich sprachlich, aber auch in weiteren kulturellen Praktiken aus?
- Welche Beispiele gibt es für die Re-Aktivierung und Umsetzung indigenen Wissens in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten (zum Beispiel in Dorfstrukturen/Gemeinschaften/Gesundheitswesen/Bildung/Kunst)?
- Wie wird indigenes Wissen in der Mehrheitsgesellschaft in Südostasien, aber auch im Globalen Norden wahrgenommen, vermittelt und diskutiert?
- Wie kann dieses Wissen zur Bewältigung von Krisen dienen?
- An welchen Stellen dürfen dominante Definitionen – und Abwertungen, die sie mit sich bringen – kritisch hinterfragt werden, zum Beispiel das gängige Narrativ, dass Subsistenzwirtschaft gleichbedeutend mit Armut sei?
- Was sind Beispiele für eine gelungene Zusammenarbeit zwischen Einzelpersonen und/oder Gruppen im Globalem Norden und im Globalem Süden unter Einbeziehung von indigenem Wissen?
- Wie wird indigenes Wissen mit modernen Technologien kombiniert?
- Wie wirken sich weiterbestehende koloniale Machtverhältnisse aus, zum Beispiel bei der Vereinnahmung traditionellen Heilwissens durch Pharmaunternehmen oder bei der Kriminalisierung indigenen Wissens im Zuge der Saatgut-Kommerzialisierung?
- Welche Bewegungen (lokal, regional, national, international) und welche Forderungen indigener Bevölkerungsgruppen gibt es in Südostasien? Auf welche Weise werden diese Forderungen sichtbar und hörbar gemacht?
- Wie kann indigenes Wissen ökologisch destruktive, lebensferne Wissens- und Wirtschaftssysteme herausfordern und im Sinne einer lebensbejahenden Praxis weiterentwickeln?
Wir freuen uns über Artikel in verschiedenen Formaten: Portraits von Akteur:innen, Kommentare, Reportagen, Hintergrundberichte, Analysen, Interviews, Foto-Essays sowie Rezensionen von Filmen, Musik oder Büchern. Gesucht sind sowohl Beiträge, die sich beispielhaft mit einzelnen oben genannten Aspekten (oder einzelnen Ländern Südostasiens) auseinandersetzen als auch Überblicksartikel zu strukturellen Fragen und Zusammenhängen.
Bitte schickt dem Redaktionsteam ein kurzes Proposal (max. 1.000 Zeichen) bis spätestens 25. November 2025 an iks(at)suedostasien.net. Wir freuen uns auf eure Ideen!
Simon Kaack, Anett Keller, Mustafa Kursun, Viktoria Szostakowski, Marina Wetzlmaier (das Redaktionsteam der Ausgabe Indigenes Wissen)
Selbstverständnis der südostasien:
südostasien versammelt Stimmen aus und über Südostasien zu aktuellen Entwicklungen in Politik, Ökonomie, Ökologie, Gesellschaft und Kultur. Zu vier Schwerpunkthemen im Jahr erscheinen Beiträge über die Region und die Länder Südostasiens sowie deren globale/internationale Beziehungen.
südostasien versteht sich als pluralistisches Forum eines herrschaftskritischen und solidarischen Dialogs, als Raum für Diskussionen zwischen Akteur*innen in Südostasien und Deutschland mit Nähe und Kenntnissen zu sozialen Bewegungen. südostasien beschäftigt sich mit Möglichkeiten transnationaler Solidaritätsarbeit angesichts ungleicher Machtverhältnisse zwischen dem globalen Norden und Süden. südostasien möchte Denkanstöße für das Handeln in Europa bzw. in Deutschland liefern.
 
								
									 
           
           
           
           
                
        
    
 
                
        
    
