"Da freut man sich, dass in Deutschland die Netzsperren vom Tisch sind, und auch in der EU ziemlich sicher verpflichtende Sperren verhindert werden konnten, da kommen neue Ideen zur Territorialisierung des Internets von der EU: die Law Enforcement Working Party (LEWP) des EU-Ministerrats schlägt ein Europa-Net vor, mit „virtuellen Schengen Grenzen“ an „virtuellen Zugangspunkten“ vor. Internet-Zugangsanbieter sollen dann „unerlaubte“ bzw. „gesetzwidrige“ Inhalte blockieren – China lässt grüßen!"
Diese Diskussion geht dabei auf einen Vorschlag des ungarischen Vertreters in der Arbeitsgruppe zurück. Joe McNamee zieht einen Vergleich zu neuen Regelungen in China in dem Artikel "EU und China harmonisieren ihre Zensur".
Die Europäische Union und China dürften sich darauf geeinigt haben, bevorzugte Maßnahmen für die Zensurierung von Inhalten miteinander zu teilen und haben ein Modell ausgearbeitet, dass eine perfekte Mischung der aktuellen Strategien in der EU und in China darstellt.
Am 20. April 2011 kündigte der französische EU-Kommissar für den Binnenmarkt, Michel Barnier, anlässlich der Veranstaltung "Creative Industries: Innovation for Growth" ("Kreativwirtschaft: Innvoation für Wachstum")im Europäischen Parlament an, bei der Durchsetzung geistiger Eigentumsrechte künftig das Schwergewicht auf die Internetprovider legenzu wollen. Er erklärte, dass er "Konsumenten" nicht kriminalisieren wolle und deshalb den Druck auf die Internetmittler (die dann die Konsumenten kontrollieren und abstrafen würden) erhöhen werde.
Acht Tage später, am 28. April entschied sich das Pekinger Amt für Urheberrecht, genau den gleichen Weg zu beschreiten. In seinen "Leitlinien für den Urheberrechtsschutz bei der Verbreitung über Netzwerke" schlägt das Amt eine Reihe von Verpflichtungen für Internetmittler vor:
- Eine vorrätige Speicherung von Name und IP-Adresse des Users für 180 Tage, wenn der Internetmittler File-Sharing- oder Hosting-Dienste anbietet. Diese Regelung ist ein wenig liberaler als der liberalste, von der Europäischen Kommission festgelegte Ansatz, der eine Speicherung der Vorratsdaten für die Dauer von zumindest sechs Monaten vorsieht.
- Abschreckung und Einschränkung (sic) jener, die unlizensiertes Material hochladen, einschließlich Abschaltung der Dienste der beschuldigten User (wie dies auch in den vorbereitenden Dokumenten zum ACTA-Abkommen angeführt und von Seiten der EU befürwortet wird) und Meldung der Verstöße an die zuständigen Strafverfolgungsbehörden.
- Anwendung "effektiver technischer Maßnahmen, um User am Hochladen oder Verlinken von urheberrechtlich geschützten Werken zu hindern" (wie auch von der EU in ihren Eingaben beim Europäischen Gerichtshof in der Rechtssache Scarlet/Sabam (Nr. C-70/10) befürwortet).
Die Entwicklungen im Bereich des Urheberrechts zeigen Chinas Bereitschaft, von den in der EU geplanten repressiven Maßnahmen zu lernen. Dabei handelt es sich aber keineswegs um eine Einbahnstraße, wiedie jüngsten Enthüllungen über die Vorschläge der ungarischen Ratspräsidentschaft zu einem "virtuellen Schengenraum" zeigen.
Im Jahre 2008 hat die französische Ratspräsidentschaft Pläne für einevon Europol betriebene "Cybercrime Plattform" vorgestellt. Die Plattform sollte dazu dienen, aus ganz Europa Berichte über verbotene/unerwünschte Inhalte einzuholen und war als "Informationsdrehscheibe" gedacht – mit der einigermaßen offensichtlichen Absicht, eine gemeinsame Vorgehensweise bei der Sperre von Webinhalten zu erreichen.
Der Vorstoß wurde im Rahmen der `Strategie der inneren Sicherheit` aus 2010 weiterverfolgt. In diesem Strategiepapier wird bedenklicherweise erklärt, "während das Internet keine Grenzen kennt, endet die Zuständigkeit für die Verfolgung von Internetkriminalität immer noch an der nationalen Demarkationslinie. Die Mitgliedsstaaten müssen ihre Bemühungen auf EU-Ebene konzentrieren. Das High Tech Crime Centre bei Europol spielt bereits eine wichtige Rolle bei der Koordinierung der Strafverfolgung, aber es bedarf weiterer Anstrengungen."
Die Europäische Kommission hat umgehend die Initiative ergriffen und eine Finanzierung für Projekte angeboten, die "die Sperre des Zugangs zuKinderpornografie oder die Sperre des Zugangs zu illegalen Internetinhalten über eine öffentlich/private Zusammenarbeit" ermöglicht– wobei sowohl die Ausweitung der Sperren auf jedweden Inhalt als auch das außer-justizielle Vorgehen im Widerspruch zur Europäischen Menschenrechtskonvention und zur EU-Grundrechtecharta steht. In der Folge erhielten die europäischen Polizeikräfte eine Förderung von 324.059 Euro, um in der EU für Internetsperren zu werben.
All diese Entwicklungen haben nun zu dem Vorschlag über eine "Große Firewall für Europa" geführt, wie eine Präsentation anlässlich einer Ratssitzung zeigt. EDRi hat die entsprechenden Dokumente dieser Tage veröffentlicht.
Diese Firewall würde die Bemühungen in der EU harmonisieren, wonach Inhalte an der EU-Außengrenze abgefangen werden sollen, was der gleichenLogik folgt wie die "Große Chinesische Firewall", die von außerhalb desEinflussbereichs der chinesischen Gerichtsbarkeit stammende, unerwünschte Inhalte zensuriert. Ironischerweise behaupten nun sowohl die Europäische Kommission als auch der EU-Ministerrat, dass solche Sperren nie beabsichtigt waren und distanzieren sich von diesen Vorschlägen. Sie gehen dabei soweit, dass sogar das Protokoll zu jener Sitzung, bei der der Vorschlag präsentiert worden ist, umgeschrieben wurde.
Zusammenfassend lässt sich daher sagen, dass die Zensurpolitik in derEU/in China auf dem europäischen Modell der Zensur durch Stellvertreterberuht, wobei die Arbeit von den Internetmittlern erledigt wird. Und für unerwünschten Verkehr von außerhalb der EU wird – trotz aller Unschuldsbeteuerungen seitens der EU-Institutionen – das chinesische Modell der "virtuellen Grenze" vorangetrieben.
(Ein Beitrag von Joe McNamee – EDRi)
Quelle: Arbeitskreis gegen Internet-Sperren und Zensur, 26.4.2011
ak-zensur.de/2011/04/chinesische-loesung.html
Europa auf dem Weg nach China
www.unwatched.org/EDRigram_9.10_EU_und_China_harmonisieren_ihre_Zensurmassnahmen