Mit einem Zitat der politischen Philosophin Judith Shklar leitete der Rechtsexperte von Statefree e.V., Denis Neselovskyi, das einstündige Event ein: „To be a stateless individual is one of the most dreadful political fates that can befall anyone in the modern world". Er zeigte auf, dass die Ursache von Staatenlosigkeit in unserer von Menschenhand geschaffenen, politischen Organisation der Welt liegt. Demnach gibt es staatenlose Personen weltweit, und ihre Situation ist ein von Staaten geschaffenes Problem. Staatenlosen Personen werden die Rechte auf eine Staatsangehörigkeit und damit auch auf Gesundheit, Eigentum, Bildung und Arbeit entzogen.
Vertreibungen sind oft Ursache von Staatenlosigkeit
Global gibt es rund 100 Millionen gewaltsam vertriebene Menschen. Staatenlosigkeit kann aufgrund oder in Folge einer gewaltsamen Vertreibung vorkommen. Bei jeder dritten staatenlosen Person ist dies auch der Fall.
In Folge von Vertreibungen laufen die Betroffenen Gefahr, durch den Verlust ihrer Ausweisdokumente staatenlos zu werden. Ohne diese ist es schwierig, den Beweis zur Zugehörigkeit eines Landes zu erbringen. Dies ist in besonderem Maße zutreffend, wenn die Ursache der Vertreibung lange anhält.
Im Exil geborene Kinder sind besonders betroffen. Infolge des Syrienkrieges konnten z.B. syrische Kinder, die im Libanon geboren wurden, keine Geburtenregistrierung erhalten. Es gibt oft Konflikte zwischen den Gesetzen zur Staatsangehörigkeit aus den Herkunftsländern der Eltern und den Ländern, in denen ihre Kinder im Exil geboren werden. Wenn Eltern und insbesondere Frauen die Weitergabe ihrer Staatsangehörigkeit an ihre Kinder verweigert wird, tragen auch solche diskriminierenden Gesetze zum Problem bei.
In naher Zukunft werden Fluchtbewegungen aufgrund globaler Erwärmung entstehen. Insbesondere Menschen aus pazifischen Nationen, wie Mikronesien, Malediven und Tuvalu, werden besonderer Schutzbedürftigkeit ausgesetzt, wenn der Meeresspiegel steigt und ihre Staaten überflutet werden. Denis Neselovskyi resümierte, dass Staatenlosigkeit eine der gefährlichsten und destabilisierenden Konsequenzen moderner Politik ist. Diese Entwicklung betrifft 15 Millionen Menschen, davon ein Drittel Kinder, die keine rechtliche Zugehörigkeit zu einem der weltweit 195 heute bestehenden Staaten haben.
Zwei internationale Abkommen und große Herausforderungen
Im Rahmen der UN wurde zunächst die Rechtsstellung für den Schutz der Menschen, die heutzutage nicht mehr von Staaten geschützt werden sowie ihre individuellen Rechte anerkannt. In einem weiteren Übereinkommen wurden die Vermeidung von Staatenlosigkeit und das Ziel, Staatenlosigkeit weltweit zu beenden, in das internationale Menschenrecht aufgenommen. Das UNHCR ist mit der Identifizierung und dem Schutz staatenloser Menschen sowie mit der Verhinderung und Verminderung der Staatenlosigkeit beauftragt. Die Erfassung der Staatenlosigkeit ist jedoch weltweit eine große Herausforderung, da nur 76 Länder überhaupt Zahlen erheben und diese an das UNHCR kommunizieren.
Lage von Staatenlosen in Deutschland
Ohne die Feststellung der Staatenlosigkeit, ergibt sich das große Problem der Unsichtbarkeit der Staatenlosen, häufig verursacht durch die Intersektion mit Flüchtlingen. Nicht alle Staatenlose sind Flüchtlinge und vice versa.
Kommen beispielsweise staatenlose Flüchtlinge nach Deutschland, werden diese nicht als solche identifiziert und ihre besondere Schutzbedürftigkeit wird in den Behörden nicht kenntlich. Hier griff die Mitgründerin von Statefree e.V. Christiana Bukalo die Situation staatenloser Personen in Deutschland auf. Die Komplexität der Staatenlosigkeit wird durch die juristische Unterteilung in de facto und de jure staatenlose Personen verdeutlicht.
Beide Gruppen eint, dass die Betroffenen keine wirksame Nationalität haben. Gehen die Behörden von einer vermeintlichen Staatsangehörigkeit bei staatenlosen Personen aus, muss die Person das Gegenteil beweisen. Die Staatsangehörigkeit gilt dann als ungeklärt und aufgrund des fehlenden Verfahrens zur Feststellung der Staatenlosigkeit, zieht sich die Klärung dieser Vermutung und des Beweises der Staatenlosigkeit über Jahre. Den Behörden fehlt es an Möglichkeiten, mit den Problemen der Staatenlosigkeit umzugehen und somit verbleiben unidentifizierte Staatenlose ohne den ihnen zustehenden rechtlichen Status. Hingegen konnten de jure staatenlose Personen das Nichtbestehen ihrer Staatsangehörigkeit beweisen und Zugang zu einem rechtlich anerkannten Status erhalten.
Obwohl Deutschland sich zu den zwei erwähnten Übereinkommen bekannt hat, steigt die Anzahl der Staatenlose seit 2017 konstant an. Die Schwierigkeiten im Alltag liegen für die Betroffenen in ihrer nicht vorhandenen Reisefreiheit, den Einschränkungen im Umgang mit dem Bank- oder Postwesen und auch in dem ihnen versagten Wahlrecht. Denn durch mangelnde politische Repräsentation gibt es keine institutionellen Anlaufstellen, und juristische Beratung in diesem Nischenbereich ist rar.
Statefree e.V. will die Lage für Staatenlose verbessern, mit der Forderung nach Rechten auf Anerkennung, auf Identität und soziale Teilhabe, auf Befreiung und Beendigung der Staatenlosigkeit und auf das Recht von Kindern, vor Staatenlosigkeit geschützt zu sein.
Vietnamesische Minderheit in Kambodscha
Wendet man den Blick von Europa nach Asien, darf auch der Ursprung von Staatenlosigkeit nicht außer Acht gelassen werden. Beginnend mit der Kolonialisierung und dem Export des Nationalstaatsmodels, hat diese Rechtskategorie erst Einzug in den Globalen Süden erhalten. Mit dem Triumph des Nationalismus wurden Menschen oder ganze Gemeinschaften von den Privilegien der Staatsbürgerschaft in den neu entstandenen Nationalstaaten ausgeschlossen.
Dr. Christoph Sperfeldt forscht zu und arbeitet seit vielen Jahren mit Gruppen der vietnamesischen Minderheit in Kambodscha zusammen. In seinem Input berichtete er über deren Lebenssituation und die Diversität von Staatenlosigkeit. Viele Angehörigen der vietnamesischen Minderheit leben seit Generationen auf schwimmenden Dörfern in Kambodscha, v.a. im See Tonle-Sap. Kinder haben dort keinen effektiven Zugang zu einer Geburtenregistrierung. Dies erschwert ihnen den Zugang zu Bildung, konkret: Schule, zur Gesundheitsversorgung und den Besitz von Land.
Von Kambodscha wurden erst seit 2014 Daten zu Staatenlosigkeit berichtet. In den UNHCR-Statistiken werden gegenwärtig ungefähr 75.000 Staatenlose im Land genannt, mit einer sehr hohen Dunkelziffer. Die vietnamesische Gemeinschaft in Kambodscha steht für einen generellen Trend: 75% aller staatenlosen Personen weltweit sind Angehörige von Minderheiten. Aufgrund häufig vorherrschender diskriminierender Hintergründe wollen Regierungen bestimmte Personengruppen nicht als Teil der politischen Gemeinschaft anerkennen. Staaten sind sehr sensibel darüber, wen sie als ihre Angehörigen aufnehmen.
So fasste Dr. Christoph Sperfeldt das Hauptproblem der Weltgemeinschaft zur Staatenlosigkeit mit dem prägnanten Satz zusammen „Wir wissen, dass wir nicht viel wissen!“. Die anhaltende Unsichtbarkeit staatenloser Personen, kombiniert mit Diskriminierungen und dem spärlichen Engagement von Staaten, lässt die Hürden zur Beseitigung dieser Rechtsunsicherheit weiter bestehen.
Abschließend wurde mit den über 30 Teilnehmenden diskutiert, und die Referent:innen beantworteten Rückfragen zu Staatenlosigkeit und zur Situation Staatenloser in Deutschland sowie Kambodscha.
Text: Kathrin Sommerfeld
„Zugehörigkeit verweigert!“ Staatenlosigkeit in Kambodscha und Deutschland fand am 19. Januar 2023 statt.
Sprecher:innen waren Christiana Bukalo (Statefree e.V.), Denis Neselovskyi (Statefree e.V.) und Dr. Christoph Sperfeldt (Macquarie University, Sydney). Ali Al-Nasani (Raoul Wallenberg Institut Kambodscha) und Raphael Göpel (Stiftung Asienhaus) moderierten das Webinar.
Die Veranstaltung wurde von der Stiftung Asienhaus mit Statefree e.V. und dem Raoul Wallenberg Institut Kambodscha organisiert.