Die Beziehungen zwischen Thailand und Kambodscha, lange von pragmatischer Nachbarschaft und gemeinsamer Geschichte geprägt, sind im Sommer 2025 in einen gefährlichen Abwärtsstrudel geraten. Was als Grenzzwist um einen entlegenen Streifen Land begann, hat sich zu einem internationalen Drama entwickelt – mit nationalistischen Parolen, persönlichen Feindschaften, gezielten Desinformationskampagnen und geopolitischer Einflussnahme. Der jüngste Konflikt zeigt, wie fragil Frieden in Südostasien bleiben kann, wenn historische Wunden, nationale Egos und innenpolitische Krisen aufeinandertreffen.
Eine Grenze ohne klare Linie
Die eigentliche Ursache des aktuellen Konflikts liegt in einem altbekannten Problem: der unklaren Grenzziehung zwischen den beiden Staaten. Grundlage ist das französisch-siamesische Abkommen von 1907 – doch dieses Abkommen wurde nie eindeutig umgesetzt. Jahrzehntelange Kämpfe, koloniale Willkür und ungenaue Karten haben zu einem Flickenteppich aus realer Kontrolle, historischen Ansprüchen und nationalistischen Vorstellungen geführt.
Wie der renommierte thailändische Historiker Thongchai Winichakul es formulierte: „In solchen Situationen helfen Karten nicht – sie sind Teil des Problems.“ Insbesondere in der Gegend um Tempel, die auf der Grenzlinie liegen, bestehen widersprüchliche Interpretationen darüber, auf welcher Seite der Tempel die Grenze eigentlich verläuft. Der Streit um die Zugehörigkeit kleiner Tempelruinen, Wasserläufe und bewaldeter Hügel eskalierte Ende Mai, als beide Seiten sich gegenseitig vorwarfen, Landminen gelegt und Grenzposten beschossen zu haben.
Bruch einer politischen Freundschaft
Doch die territorialen Differenzen allein erklären nicht die Schärfe des Konflikts. Mindestens ebenso ausschlaggebend war die überraschende spektakuläre Zerstörung einer jahrelangen politischen Allianz: der zwischen den Familien Hun in Kambodscha und Shinawatra in Thailand.
Einst verband sie ein gemeinsames politisches Schicksal und gegenseitige Unterstützung – Thaksin Shinawatra war ein enger Verbündeter von Hun Sen, der Kambodscha über drei Jahrzehnte hinweg regierte. Doch diese Beziehung zerbrach öffentlich, als Hun Sen, inzwischen Senatspräsident, ein vertrauliches Telefongespräch mit der thailändischen Premierministerin Paetongtarn Shinawatra, einer Tochter Thaksins, veröffentlichte. Darin bezeichnete sie den thailändischen Militärkommandeur an der Grenze als „Gegner“ – was Hun Sen als Beleidigung des thailändischen Königs auslegte, da dieser den General durch königliches Dekret eingesetzt hatte.
In Thailand, wo Majestätsbeleidigung ein Schwerverbrechen ist, schlugen die nationalistischen Wellen hoch. Konservative Kräfte forderten Paetongtarns Rücktritt – während Hun Sen medienwirksam erklärte, sie habe „ihr eigenes Land beschmutzt“. Das Verfassungsgericht Thailand setzte schließlich Paetongtarn Shinawatra ab und vollendete damit die Staatskrise.
Schuldzuweisungen auf beiden Seiten
Mit zunehmender Eskalation wurden die gegenseitigen Vorwürfe schriller. Phnom Penh beschuldigte das thailändische Militär, Landminen auf kambodschanischem Boden zu verlegen und gezielt Zivilist: innen zu beschießen. Bangkok wiederum warf Kambodscha Grenzprovokationen, illegale Besetzungen und systematische Sabotage an Infrastruktur vor.
Die öffentliche Debatte auf beiden Seiten wurde durch Fake News und gezielte Desinformation weiter aufgeheizt – verstärkt durch den Mangel an Pressefreiheit. In beiden Ländern kontrollieren regierungsnahe Kräfte weite Teile der Medienlandschaft. Kritische Stimmen, die zu Mäßigung aufrufen oder historische Fakten in Erinnerung rufen, haben kaum Raum zur Entfaltung. Stattdessen dominieren Verschwörungstheorien über angebliche Landverkäufe, gestohlene Kultur und die Wiederherstellung nationaler Größe.
Der Schatten des Vaters über Hun Manet
Inmitten der Krise wurde deutlich, dass der Übergang der Macht in Kambodscha noch nicht abgeschlossen ist. Zwar ist Hun Manet offiziell Premierminister, doch sein Vater Hun Sen bleibt der eigentliche Machtfaktor. Dies zeigte sich deutlich, als der kambodschanische König Norodom Sihamoni Hun Sen persönlich zum Koordinator der militärischen Operationen ernannte – ein klares Zeichen, dass das Vertrauen in den Sohn noch begrenzt ist. Für viele Beobachter:innen ist Hun Manet damit in die zweite Reihe verbannt worden, während sein Vater das nationale Narrativ erneut dominiert.
Regionale Diplomatie unter globalem Druck
Der Grenzkonflikt blieb nicht ohne internationale Reaktionen. Die ASEAN-Staaten, traditionell zögerlich in innerregionalen Konflikten, zeigten sich in diesem Fall zwar aktiv – jedoch mit begrenztem Erfolg. Unter der Vermittlung Malaysias fand im Juni ein Krisentreffen in Kuala Lumpur statt. Der dort verhandelte Waffenstillstand war und ist jedoch brüchig.
James Gomez, Direktor des unabhängigen Asia Centre in Bangkok sieht die Rolle des Staatenbunds nüchtern: „Die Beteiligung von ASEAN an der Grenzkrise zwischen Thailand und Kambodscha war symbolischer Natur. Zwar gelang es Malaysia als ASEAN-Vorsitzendem, einen Waffenstillstand zu „vermitteln“, doch beruhte dieser Durchbruch in hohem Maße auf dem Druck Chinas und insbesondere der USA und nicht auf der institutionellen Stärke der ASEAN. Aufgrund tiefgreifender struktureller Grenzen innerhalb von ASEAN war es der Staatengemeinschaft nicht möglich, beide Seiten zu bedeutenden Zugeständnissen zu zwingen. Kurz gesagt: ASEAN war zwar präsent, hatte aber keinerlei Einfluss auf den Ausgang der Krise.“
Beobachter berichten, dass sowohl China als auch die USA Druck auf die ASEAN-Staaten ausübten, aktiv zu vermitteln. Für China steht dabei die Stabilität seiner Infrastruktur- und Handelsrouten im Vordergrund, die durch den Konflikt gefährdet sein könnten. Die USA wiederum sehen in der Krise eine mögliche Gelegenheit, ihren Einfluss in der Region wieder herzustellen – auch, um dem wachsenden chinesischen Einfluss etwas entgegenzusetzen.
Schweden liefert Kampfjets – Vorrang von Wirtschaftsinteressen vor Frieden
Für zusätzliche Brisanz sorgte die Ankündigung Schwedens, Kampfflugzeuge vom Typ JAS 39 Gripen an Thailand zu liefern. Der Vertrag, bereits 2024 unterschriftsreif, wurde inmitten des Konflikts ratifiziert – was in Phnom Penh als klare Parteinahme zugunsten Bangkoks wahrgenommen wurde. Schweden betont, die Lieferung sei rein wirtschaftlich motiviert. Dies wirkt nochmals besonders zynisch vor dem Hintergrund, dass Schweden in den letzten Jahren Friedensprojekte in Kambodscha unterstützt hat, bevor die neue rechtskonservative Regierung an Heiligabend 2023 alle Mittel für Friedensarbeit strich.
Ablenkung von inneren Krisen?
In beiden Ländern dient der Konflikt auch als willkommene Ablenkung von innenpolitischen Herausforderungen. In Kambodscha hat die Regierung Mühe, das internationale Image nach Enthüllungen über die florierende Scam-Industrie wiederherzustellen. Seit Jahren gilt Kambodscha als Hort von milliardenschweren Scam-Fabriken, die nicht operieren könnten, wenn die Behörden nicht ein Auge zudrücken würden und sich dies teuer bezahlen ließen. Die kambodschanische Wirtschaft schwächelt seit der Corona-Pandemie, der Tourismussektor liegt am Boden – einige Länder warnen aufgrund der Untätigkeit der kambodschanischen Polizei und Justiz gegenüber der Kriminalität ihre Bevölkerung vor Reisen ins Land.
In Thailand wiederum erschüttert ein Skandal um buddhistische Mönche das Vertrauen in eine der zentralen Institutionen des Landes. Enthüllungen über riesige Vermögen, sexuelle Beziehungen zu Frauen und Luxusgüter haben die Sangha (Gemeinschaft der ordinierten Mönche) in eine Vertrauenskrise gestürzt. Auch die thailändische Wirtschaft kämpft mit stagnierendem Wachstum, Abwanderung von Fachkräften und sinkender Kaufkraft.
Der Konflikt an der Grenze ermöglicht es beiden Regierungen, von diesen Problemen abzulenken – und sich im nationalistischen Glanz zu präsentieren.
Aussicht auf Frieden?
Eine kurzfristige Lösung des Konflikts scheint unwahrscheinlich. Der Historiker Thongchai bringt es auf den Punkt: „Die einzige Möglichkeit zur Lösung ist eine gute Beziehung – und die gibt es derzeit nicht.“ Die Karten, auf die sich beide Seiten berufen, sind widersprüchlich und teilweise manipuliert. Die gegenseitige Feindseligkeit wird durch historische Mythen, koloniale Altlasten und persönliche Eitelkeiten weiter angeheizt.
Da Kambodscha zwischenzeitlich Thailand vor dem Internationalen Gerichtshof verklagt hat, wird auch das Ergebnis dieses Prozesses ebenso abzuwarten sein wie das Resultat der thailändischen Klage bei ASEAN gegen mutmaßliches Minenlegen der kambodschanischen Armee auf thailändischem Territorium.
Ein realistischer Weg zu dauerhaftem Frieden würde ein multilaterales Schlichtungsverfahren, unter Beteiligung internationaler Experten und unter Aufsicht neutraler Staaten, erfordern. Doch dazu fehlt aktuell der politische Wille – und das öffentliche Klima ist zu aufgeladen für rationale Kompromisse.
Was kurzfristig möglich wäre: ein Einfrieren des Konflikts. Keine neuen Minen, keine militärischen Manöver, keine polemischen Reden. Ein „kalter Frieden“, der Zeit verschafft – bis die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen für eine echte Lösung reif sind.
Doch bis dahin bleibt der Grenzstreifen zwischen Thailand und Kambodscha ein Pulverfass – entzündbar durch die kleinste Provokation, befeuert von Propaganda und dem Drang nach Macht.
„Ein Waffenstillstand kann schnell erreicht werden, aber Frieden ist nicht einfach“, sagte Ou Virak, Gründer des unabhängigen Future Forums in Phnom Penh, gegenüber der Washington Post in einem Interview. „Die gesamte Grenzregion wird immer instabil bleiben, und um langfristig Sicherheit zu gewährleisten, wird es lange dauern.“
Bilder: Foto 1,2 und 3 von Ali Al-Nasani, alle Rechte vorbehalten
Über den Autor:
Ali Al-Nasani ist Geschäftsführer von EIRENE Internationaler Christlicher Friedensdienst. Davor hat er über zehn Jahre in Kambodscha gelebt und für die Heinrich-Böll-Stiftung und das Raoul Wallenberg Institut im Bereich Menschenrechte und Demokratieförderung gearbeitet.