jedoch auch die Herausforderungen innerhalb des Gesundheitssystems zu: Ungleichheiten, Fachkräftemangel und der demografische Wandel.
Chinas Gesundheitssystem: Fortschritte und Herausforderungen
Die Volksrepublik China hat in den letzten Jahrzehnten nicht nur wirtschaftliche Fortschritte gemacht, sondern auch deutliche Verbesserungen im Gesundheitswesen erzielt. Die Lebenserwartung ist gestiegen und die Sterblichkeitsrate gesunken. Laut WHO liegt das chinesische Gesundheitssystem im aktuellen weltweiten Vergleich im oberen Mittelfeld. Betrachtet man nur die Entwicklung der wichtigsten Gesundheitsindikatoren von 1990 bis 2017 im Vergleich zu den anderen sechs Ländern der E7, einer Gruppe aufstrebender Wirtschaftsnationen, schneidet China sogar sehr gut ab.
Trotz dieser Fortschritte steht das chinesische Gesundheitssystem heute vor bedeutenden Herausforderungen. Besonders die alternde Bevölkerung und die zunehmende Nachfrage nach Gesundheitsleistungen erfordern umfassende und inklusivere Lösungen.
Von Planwirtschaft zu Marktwirtschaft, Reformen seit den 1980er Jahren
Bis in die 1980er Jahre war das chinesische Gesundheitssystem geprägt von einem universellen Zugang zu grundlegenden Gesundheitsdiensten. Zwei Hauptinstitutionen im Gesundheitssektor, das Government Insurance Scheme (GIS) und das Labour Insurance Scheme (LIS), stellten sicher, dass grundlegende medizinische Bedürfnisse für alle Bürger abgedeckt waren. In diesem Zeitraum sank die Geburtensterberate von 250 auf 34 pro 1.000 Geburten, und die Lebenserwartung stieg von 35 auf 68 Jahre.
Mit den wirtschaftlichen Reformen ab den 1980er Jahren setzte eine zunehmende Kommerzialisierung des Gesundheitssystems ein, die dessen zuvor eher präventiven Charakter grundlegend veränderte. Die Regierung straffte die Budgets öffentlicher Krankenhäuser, kürzte die Mittel für andere Gesundheitsdienstleister und erlaubte es, die Preise für Medikamente um bis zu 20 % zu erhöhen. Diese Maßnahmen führten zu erheblichen Unterschieden in der Gesundheitsversorgung zwischen verschiedenen Einkommensgruppen. Besonders deutlich wurde diese Entwicklung im ländlichen Raum: Während die kollektive Gesundheitsversorgung vor 1980 noch etwa 90 % der ländlichen Bevölkerung abdeckte, waren es in den 1990er Jahren nur noch etwa 10 %.
In den 1990er Jahren zeigte sich auch in den städtischen Regionen eine sinkende Nutzung der öffentlichen Gesundheitssysteme, da diese für viele Bürger:innen zu teuer wurden. Der Anteil der Personen, die Gesundheitsleistungen aus eigener Tasche bezahlten, stieg, während die Inanspruchnahme ambulanter Dienste zurückging. Ergebnisse einer Erhebungsstudie zwischen 1993 und 1998 zeigten, dass fast 70 % derjenigen, die eine unbehandelte Krankheit hatten, finanzielle Schwierigkeiten als Hauptgrund für die Nichtinanspruchnahme von Versorgungsdiensten angaben.
Zweite Reformwelle ab 2003
Zu Beginn der 2000er Jahre leitete die chinesische Regierung eine neue Runde von Gesundheitsreformen ein und reagierte damit auf die zuvor beschriebenen Entwicklungen. Der Plan war es die gesundheitliche Grundversorgung zu fördern, den Geltungsbereich der sozialen Krankenversicherung auszuweiten und Preisaufschläge bei Medikamenten zu reduzieren. Bis 2020 sollte so eine flächendeckende medizinische Grundversorgung in Stadt und Land gewährleistet werden.
Im Rahmen dieser Reformen wurde ein duales System eingeführt. Im ländlichen China implementierte die Regierung das New Cooperative Medical System (NCMS). Es knüpft an das kollektive Modell vor 1980 an und zielt darauf ab, den Zugang zu grundlegenden Gesundheitsdiensten sicherzustellen sowie die finanzielle Belastung durch Krankheit und Armut zu reduzieren. Zu diesem Zweck übernimmt die Regierung einen Großteil der Gesundheitskosten, wodurch die individuellen Beiträge der Bevölkerung niedrig gehalten werden; so erhalten Patient:innen beispielsweise Erstattungen für Behandlungen in bestimmten Krankenhäusern. Das NCMS wurde in den Folgejahren fortlaufend weiterentwickelt und die Versorgung im ländlichen China so deutlich optimiert.
Im urbanen China wurden bereits 1997 weitreichende Reformen eingeleitet. Anders als auf dem Land versuchte man hier nicht, alte Systeme wiederzubeleben, sondern strebte die Neuausrichtung und Vereinheitlichung der bestehenden Versicherungssysteme an. Die beiden Systeme GIS und LIS, welche aus den Zeiten Maos stammten, wurden zum neuen Basic Health Insurance System (BHIS) zusammengeführt, was ab 2000 dann flächendeckend in den Städten umgesetzt wurde.
Im Jahr 2019 stellte China dann den „Aktionsplan für ein gesundes China“ vor und verlängerte das Ziel der gesundheitlichen Chancengleichheit bis 2030. In diesem Plan wurden mehr als 100 Gesundheitsindikatoren vorgeschlagen, um das Gesundheitsverhalten und die Gesundheitsergebnisse Chinas zu verbessern. Diese Indikatoren messen jedoch vor allem den allgemeinen Gesundheitszustand und berücksichtigen dabei kaum die Unterschiede der verschiedenen sozioökonomischen Bevölkerungsgruppen. Allerdings sind es genau diese Indikatoren, welche das aktuelle Gesundheitssystem auf die Probe stellen.
Ungleichheiten des chinesischen Gesundheitssystems
Eine der wohl größten Herausforderungen im chinesischen Gesundheitssystem sind die steigenden Gesundheitskosten. Die Grundversorgung leidet vielerorts unter großen Qualitätslücken, da es an qualifizierten Ärzt:innen mangelt und die Anreize für diese suboptimal sind: Hausärzt:innen verdienen weniger und haben geringere Aufstiegsmöglichkeiten im Vergleich zu Krankenhausärzt:innen. Viele Patient:innen ziehen daher, selbst bei einfachen Erkrankungen, die teureren tertiären Versorgungseinrichtungen, wie große Krankenhäuser, vor. 2021 flossen 53,4 % der Ressourcen in öffentliche Tertiärkrankenhäuser, während nur 17,9 % auf die Basisversorgung entfielen. Diese übermäßige Nutzung der teuren Krankenhausversorgung hat die Gesundheitskosten im letzten Jahrzehnt drastisch erhöht. Zwischen 2006 und 2021 stiegen die gesamten staatlichen Gesundheitsausgaben jährlich um durchschnittlich 11,3 %, was wiederum auch die Inanspruchnahme von individuellen Leistungen stark in die Höhe getrieben hat.
Die 2015 gestartete Kampagne der chinesischen Regierung zur gezielten Armutsbekämpfung hat zwar auch im Gesundheitssektor einige Erfolge erzielt, indem sie beispielsweise Haushalte unterhalb der absoluten Armutsgrenze von Gesundheitsausgaben befreite und so das Risiko katastrophaler Gesundheitskosten verringerte. Dennoch bleiben viele chinesische Haushalte mit niedrigem Einkommen knapp über dieser Grenze und sind daher auch weiterhin sehr anfällig für hohe Gesundheitsausgaben, was zu schweren finanziellen Belastungen führt.
Doch nicht nur für diese Gruppe bedeuten die steigenden Gesundheitskosten eine Herausforderung. In jüngster Zeit gab es vermehrt Berichte, denen zufolge Millionen von Bürger:innen aus den chinesischen Krankenversicherungen ausgetreten seien. Viele Lokalregierungen verfügen nicht über ausreichend finanzielle Mittel, um den steigenden Gesundheitskosten gerecht zu werden. Ein Großteil dieser Kosten wird daher auf die Versicherten abgewälzt, was zu starken Anstiegen der Versicherungsprämien führte. Seit 2018 hat sich die Mindestprämie der wichtigsten Krankenversicherung mehr als verdoppelt, während beispielsweise die Durchschnittslöhne der Wanderarbeiter:innen, die zu den vulnerabelsten Gruppen zählen, im selben Zeitraum nur um 24 % gestiegen sind.
In China fehlen zudem auch im Krankenversicherungssystem effektive Schutzmechanismen für einkommensschwache Haushalte. Diese sind vor allem durch weniger großzügige soziale Krankenversicherungsprogramme abgedeckt und müssen oft erhebliche Selbstbeteiligungen und Zuzahlungen leisten. Die soziale Krankenversicherung deckt in den meisten Fällen nur etwa 50 % der Kosten für stationäre Behandlungen ab, während die Erstattungssätze für ambulante Versorgung deutlich niedriger sind. Zudem sind die Erstattungen der Krankenkassen gedeckelt und decken nicht alle individuellen Gesundheitsausgaben ab. Das bedeutet, dass Patienten mit schweren Krankheiten alle Kosten, die einen bestimmten Schwellenwert überschreiten, selbst tragen müssen.
Die Ungleichheiten im chinesischen Gesundheitssystem gehen jedoch über rein wirtschaftliche Aspekte hinaus und zeigen sich vor allem auch im Vergleich zwischen urbanen und ländlichen Gebieten. In Städten wie Peking, Xi'an, Chengdu und Chongqing gibt es zahlreiche hochwertige Gesundheitseinrichtungen, während die meisten ländlichen Regionen stark benachteiligt sind. Dort stehen oft nur kleine Gemeinde-Gesundheitszentren zur Verfügung und es gibt weniger als halb so viele Krankenhausbetten und Ärzte pro 1.000 Einwohner im Vergleich zu städtischen Gebieten.
Eine weitere Problematik offenbart sich durch die unzureichende Ausstattung der ländlichen Gesundheitseinrichtungen. Rural Community Clinics, die eigentlich als erste Anlaufstelle für die ländliche Bevölkerung dienen sollten, haben oft unzureichend ausgebildetes Personal. Viele Dorfärzte müssen aufgrund schlechter Bezahlung Nebenjobs annehmen, was das Vertrauen der Patienten in diese Einrichtungen schwächt. Dieses Misstrauen führt wiederum dazu, dass viele Menschen in ländlichen Gebieten direkt größere Krankenhäuser aufsuchen, was zum einen eine Überlastung dieser Einrichtungen bedeutet und zum anderen wie zuvor bereits beschrieben, die Gesundheitskosten in der ganzen Region nach oben treibt.
Aktuelle Herausforderung: Pflegekräftemangel
Der Fachkräftemangel im chinesischen Gesundheitssystem betrifft nicht nur Ärzt:innen, sondern auch den Pflegebereich. Berichte von Krankenpfleger:innen, die selbst auf kleineren Stationen täglich 20.000 Schritte gehen verdeutlichen die extreme Arbeitsbelastung, die durch den chronischen Personalmangel noch verschärft wird. Bereits 1978 legte das chinesische Gesundheitsministerium fest, dass jede Krankenpflegerin und jeder Krankenpfleger in allgemeinen Krankenhäusern durchschnittlich 2,5 Betten betreuen sollte, während für jede:n Ärzt:in zwei Krankenpfleger:innen vorgesehen waren. In der Realität ist das Verhältnis zwischen Ärzt:innen und Krankenpfleger:innen in China jedoch umgekehrt. Im Jahr 2021 gab es durchschnittlich nur 1,5 Krankenschwestern pro Arzt und es standen nur 3,35 Krankenschwestern pro 1.000 Einwohner zur Verfügung. Dieser Wert entspricht weniger als der Hälfte des Werts im Vereinigten Königreich und einem Viertel des Werts in Deutschland.
Die Gründe für diese Probleme sind vielschichtig und wurden in den letzten Jahren immer vehementer deutlich gemacht. So kam es im Jahr 2019 wiederholt zu Fällen, in denen medizinisches Personal kollektive von Streiks Gebrauch machte. Während unbezahlte Löhne im Verlauf der ersten Phase der Covid-19 Pandemie die Ursache für einige der Streiks 2019 waren, wurden an vielen Stellen auch Forderungen nach Lohnerhöhungen, verbesserten Sozialversicherungsleistungen und anderen Maßnahmen laut.
„Die ganze Nacht über hat man das Gefühl, dass sich alle Nerven und Blutgefäße im Gehirn zusammenziehen.“
Xiao Li (Intensivpfleger aus Shenzen)
Es war jedoch bemerkenswert, dass viele dieser Proteste nicht nur um höhere Löhne kreisten. Vielmehr ging es um die generellen Arbeitsbedingungen und die gesellschaftliche Anerkennung des Pflegeberufs. Trotz des dringenden Bedarfs an mehr Personal senken viele der öffentlichen Krankenhäuser die Gehälter und reduzieren die Arbeitskräfte, was zu einem Teufelskreis aus Überstunden führt. Zusätzlich bietet der Pflegeberuf derzeit kaum Möglichkeiten für Fort- und Weiterbildungen und ist äußerst unvorhersehbar. Ein Beispiel hierfür ist ein Intensivpfleger aus Shenzen, der berichtet, dass er drei bis vier 12-Stunden-Schichten pro Woche arbeitet. Er erfährt seinen Arbeitsplan meist erst eine Woche im Voraus und muss dann eigenständig Zeit für Schulungen und Weiterbildungen einplanen.
Zudem genießt der Pflegeberuf in China nicht viel gesellschaftliche Anerkennung. Obwohl sich das Bildungsniveau der Krankenpfleger:innen in den letzten Jahren erheblich verbessert hat und viele nun einen Hochschul- oder einen höheren Abschluss absolvieren, ist die Berufswahl für die jüngere Generation oft unfreiwillig. Viele junge Krankenpfleger:innen und Student:innen berichten, dass ihre erste Wahl die klinische Medizin war, sie aber aufgrund unzureichender Noten "leider" in die Krankenpflegeausbildung wechseln mussten.
Angesichts der alternden Bevölkerung Chinas und der Zunahme chronischer Erkrankungen wird der Bedarf an Pflegekräften in China weiter steigen. Der „Aktionsplan für ein gesundes China 2030“ strebt an, in zehn Jahren 4,7 registrierte Pflegekräfte pro 1.000 Einwohner:innen zu haben. Ausgehend von den Zahlen des Jahres 2021 müsste China bis zum Ende des Jahrzehnts 2 bis 3 Millionen zusätzliche Pfleger:innen einstellen.
Zivilgesellschaftliches Engagement und KI als Hoffnungsträger des Gesundheitssektors
Um die Herausforderungen im Gesundheitssystem zu bewältigen, arbeitet China auf verschiedenen Ebenen an Lösungsstrategien. 2021 veröffentlichte die Nationale Gesundheitskommission ein Dokument mit Vorschlägen zur Steigerung der Attraktivität des Pflegeberufs, darunter Gehaltserhöhungen und Vorteile wie flexible Arbeitszeiten und Weiterbildungsmöglichkeiten. Auch die chinesische Technologiebranche hat den Pflegenotstand erkannt: Im letzten Jahr gab es bereits rund 100 chinesische Robotik-Start-ups, die sich auf Rehabilitations-, Begleit- und Pflegeroboter spezialisiert haben. Diese Roboter übernehmen Aufgaben wie Unterhaltung und Überwachung der Patient:innen und unterstützen so das Pflegepersonal, was den Druck auf die Mitarbeitenden verringert und die Qualität der Pflege verbessert.
„Manche junge Leute denken sogar, dass alte Menschen nur unsere gesellschaftlichen Ressourcen aufbrauchen, aber in Wirklichkeit lernen wir so viel von den Älteren.“
Tang Yongqi (Gründerin von So Young)
Vermehrt gibt es zudem auch Initiativen aus der chinesischen Bevölkerung. Ein Beispiel ist das Start-Up „So Young“ aus Ya’an. Die Gründerinnen wurden inspiriert, ihr eigenes Seniorenzentrum zu gründen, als sie nach einer geeigneten Einrichtung für ihren Großvater suchten und von der geschäftsmäßigen Abwicklung dort enttäuscht waren. Es entstand die Idee, eine Art Testlabor für innovative Konzepte in der Altenpflege umzusetzen. So organisieren sie in ihrem kurz darauf gegründeten Seniorenzentrum Veranstaltungen wie Kleidertauschparties und Fotoshootings, bei denen Menschen aller Generationen zusammenkommen. Zusätzlich veranstaltet das Team Ausstellungen zu innovativer Pflegearbeit und schaltet Kampagnen über Social Media. Die Gründerinnen von „So Young“ hoffen, durch ihr Engagement die Arbeit in der Altenpflege sichtbarer zu machen, Vorurteile abzubauen und mehr Akzeptanz in der chinesischen Gesellschaft für den Pflegeberuf zu schaffen.
In den letzten zehn Jahren haben immer mehr etablierte, große NGOs ihren Wirkungsbereich auf den Gesundheitssektor ausgeweitet und ihre Arbeit zunehmend professionalisiert. Ein Beispiel für diese Entwicklung ist die China Youth Development Foundation. Bekannt geworden durch das „Project Hope“, das Bildungsinitiativen für arme ländliche Gebiete ins Leben rief, hat die CYDF ihr Engagement nun auf die Gesundheitsversorgung ausgeweitet und organisiert regelmäßig Wohltätigkeitsaktionen wie den „Mundgesundheitspflegetag für Kinder und Jugendliche“.
Trotz vieler positiver Entwicklungen, insbesondere im zivilgesellschaftlichen Bereich, bleibt die ungleiche Verteilung medizinischer Ressourcen und der Zugang zu Gesundheitsdiensten eine erhebliche Herausforderung. Diese Situation unterstreicht die Notwendigkeit, staatliche und zivilgesellschaftliche Anstrengungen zu vereinen, um eine gerechte und nachhaltige Gesundheitsversorgung für alle zu sichern.
Julius Kaletsch