Seit Anfang 2024 führt die Regierung von Timor-Leste verstärkt Räumung von Gebäuden durch, die angeblich illegal auf staatlichem Land errichtet wurden. In vielen Fällen folgt auf die Räumung auch der vollständige Abriss der Gebäude, oft ohne Entschädigung oder alternative Unterbringungsmöglichkeiten für die Betroffenen. Diese Maßnahmen, die sich vorrangig auf die Hauptstadt Dili konzentrieren, aber auch andere Regionen betreffen, zielen laut offiziellen Angaben auf die Förderung von Ordnung, Sauberkeit und Rechtsstaatlichkeit ab. Doch die Realität hinter dieser Kampagne zeigt ein viel komplexeres und konfliktreiches Bild.
Das Vorgehen der Regierung hat die osttimoresische Gesellschaft gespalten. Während einige Bürger:innen die Räumungen als Schritt zu einer geregelten urbanen Entwicklung begrüßen, kritisiert ein großer Teil der Bevölkerung die Umsetzung als unmenschlich und rücksichtslos. Hunderten Familien wurde nicht nur ihre Lebensgrundlage, sondern auch ihr Zuhause genommen – oft ohne ausreichende Entschädigung. Viele der Vertriebenen lebten seit Jahrzehnten auf dem Land, teilweise sogar mit Genehmigungen lokaler Behörden, denen jedoch heute jegliche Rechtsgültigkeit abgesprochen wird.
Von kolonialen Besitzstrukturen zur staatlichen Räumungspolitik: Landrechtskonflikte in Timor-Leste
Die Problematik ist eng mit der komplexen Landrechtslage Timor-Lestes verknüpft, die von kolonialen Besitzstrukturen und wiederholten Vertreibungen geprägt ist. Während der indonesischen Besatzung (1975–1999) gehörte ein Großteil Dilis dem Staat, doch mit der Unabhängigkeit sahen sich viele ehemalige Eigentümer:innen mit unsicheren Rechtslagen konfrontiert. 1999 zerstörten pro-indonesische Milizen mit Unterstützung des indonesischen Militärs die Infrastruktur und zwangen Hundertausende ins benachbarte Westtimor. Bei ihrer Rückkehr besetzten viele von ihnen leerstehende Gebäude, die sie oft selbst wiederaufbauten. Die politische Krise in 2006 ging ebenfalls einher mit Zerstörung und Vertreibungen. Erneut kam es zu Verdrängungen und eine hohe Anzahl von Menschen fand sich danach formell landlos. Die unklare Eigentumssituation führte zu konkurrierenden Ansprüchen, wobei wohlhabende Familien teils auf alte, koloniale Titel verweisen, während langjährige Bewohner:innen keine formellen Nachweise haben. Versuche, Landkonflikte zu lösen wie z.B. mit dem „Ita nia rai“-Projekt, blieben unzureichend und Gerichtsverfahren sind für viele unerschwinglich.
Die Organisation Fundasaun Mahein (FM) warnt in diesem Zusammenhang vor der Normalisierung staatlicher Gewalt, die vor allem marginalisierte Gruppen trifft. Dokumentierte Fälle von Misshandlungen und Einschüchterungen durch Sicherheitskräfte ließen befürchten, dass Timor-Leste die Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit möglicherweise nicht ausreichend wahrt und stattdessen autoritäre Praktiken aus kolonialen und besatzungszeitlichen Regimen fortführt.
Verdeckte Interessen und Prestigeprojekte
Der Beginn der Räumungen fiel zeitlich mit den Vorbereitungen für den Besuch von Papst Franziskus im September 2024 zusammen. Neben der offiziell erklärten Absicht, Ordnung und Sauberkeit zu schaffen, deutet FM auf versteckte Motive hin: „Die Räumung strategisch gelegener Flächen könnte den Weg für private Investitionen in luxuriöse Einkaufszentren und Apartments ebnen. […] Sollte das Ziel der Regierung lediglich darin bestehen, ‚hochwertige‘ Investitionen anzuziehen, werden diese Projekte vermutlich keinen spürbaren Nutzen für die Mehrheit der Osttimores:innen bringen. Die Hauptnutznießer:innen wären vielmehr wohlhabende Osttimores:innen Ausländer:innen in Dili sowie Politiker:innen, die sowohl politisch als auch finanziell von dem Zustrom ausländischen Kapitals profitieren.“
Räumungen dauern auch nach Papst Besuch an
Die umstrittenen Zwangsräumungen in Timor-Leste haben sich im Jahr 2025 fortgesetzt – diesmal vor allem im Rahmen von Infrastrukturprojekten. Wie die Landrechts-NGO Rede ba Rai am 8. Januar 2025 mitteilte, wurden allein in den ersten Tagen des neuen Jahres 361 Familien in den Stadtteilen Fomento II und Comoro in Dili zwangsweise obdachlos. Menschenrechtsorganisationen prangern die Räumungen als systematische Menschenrechtsverletzungen an, die insbesondere Frauen, Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen hart treffen.
„Als Bürger von Timor-Leste bin ich bereit, mit dem Staat zusammenzuarbeiten, aber ich bin traurig, weil sie uns wie arme Menschen unter unwürdigen Bedingungen behandeln. Wir sind bereit, dieses Land aufzubauen, denn auch meine Eltern haben zuvor für die Befreiung dieses Landes gekämpft“ Januario da Silva
Laut Rede ba Rai erfolgten die jüngsten Räumungen ohne rechtsstaatliche Grundlage und unter Anwendung von Gewalt. Betroffene sprechen von Vandalismus durch die Einsatzkräfte sowie von Einschüchterungen. Besonders problematisch sei, dass viele der geräumten Familien in prekären Verhältnissen lebten und durch den Verlust ihrer Wohnungen noch tiefer in die Armut gedrängt würden. Neben dem wirtschaftlichen Schaden – etwa für informelle Händler:innen, die ihre Einkommensquelle verlieren – warnen Aktivist:innen auch vor schwerwiegenden Folgen für die Bildungschancen der Kinder. Bereits im Mai 2024 hatte Rede ba Rai eine Beschwerde beim UN-Menschenrechtsrat eingereicht und kritisiert, dass die Enteignungen auf einer unklaren rechtlichen Grundlage erfolgen, da der Staat keine umfassende Registrierung von Immobilien durchgeführt habe.
Am 23. Januar 2025 kündigte das Staatssekretariat für Topographische Angelegenheiten und Stadtplanung (SEATOU) weitere Räumungen im Rahmen eines groß angelegten Straßenbauprojekts in Dili an. Bei einer Dialogveranstaltung mit Anwohner:innen des Stadtteils Bairo-Pite erklärte SEATOU-Vertreter Germano Santa Brites, dass die Regierung die Verbreiterung öffentlicher Straßen konsequent umsetzen werde – auch wenn dies den Abriss von Wohnhäusern bedeute. Betroffene Anwohner:innen fordern eine angemessene Entschädigung sowie eine menschenwürdige Behandlung im Umsiedlungsprozess. Die Räumungen dürften nicht ohne finanzielle Kompensation erfolgen, verlangt die Dorfvorsteherin von Bairo-Pite, Joaninha Alves Soares, der Staat müsse für die betroffenen Familien tragfähige Lösungen finden.
Während die Regierung betont, dass die Bauprojekte der Modernisierung und wirtschaftlichen Entwicklung dienen, wächst die Besorgnis und Kritik unter Betroffenen, Menschenrechtsorganisationen und sozialen Initiativen: da die Regierung keine angemessene Strategie für eine sozialverträgliche Stadtentwicklung vorgelegt hat, finden sich viele Familien ohne Alternative auf der Straße wieder. Die Konfliktlinien zwischen staatlichen Entwicklungsplänen und den Wohnrechten der Bevölkerung verschärfen sich – eine Debatte, die im Jahr 2025 zunehmend an Brisanz gewinnt.
Politische Perspektiven und soziale Auswirkungen
Die nationale Menschenrechtsinstitution von Timor-Leste, die Provedoria dos Direitos Humanos e Justiça (PDHJ), sieht die Notwendigkeit, trotz bestehender gesetzlicher Regelungen, die politischen Entscheidungen für die Räumungen gründliche zu überprüfen. Der PDHJ Ombudsmann für gute Regierungsführung, Dr. Rigoberto Monteiro, erhebt am 14. Oktober 2024 auf einem Seminar, das vom Fachbereich Soziologie der Nationalen Universität Osttimors (UNTL) organisiert wurde, dringende Forderungen: Soziale und menschenrechtlichen Auswirkungen von Zwangsräumungen seien zu berücksichtigen. Die Bedürfnisse der Bevölkerung sollten an erster Stelle stehen.
Monteiro appellierte außerdem an eine bessere Koordination zwischen Behörden und lokalen Verwaltungen, um Zuständigkeiten zu klären und Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Zudem sprach er sich für die Einrichtung unabhängiger Beschwerdemechanismen aus, die den von Räumungen betroffenen Menschen eine Stimme geben und so die soziale Ungleichheit nicht weiter verschärfen würden. Er unterstützte die Initiative der Soziologiestudierenden, solche öffentlichen Debatten anzustoßen, und unterstrich die Bedeutung einer stärkeren Auseinandersetzung der Universität mit Fragen der öffentlichen Politik.
Urbanisierung und politische Gewalt
Urbanisierungsprozesse und politische Gewalt sind eng miteinander verknüpft, besonders in postkolonialen Kontexten wie Timor-Leste. Theorien zu urbaner Entwicklung betonen, dass Städte nicht nur Orte der Modernisierung, sondern auch der Machtkämpfe sind. Die Umstrukturierung urbaner Räume unter dem Vorwand der Verbesserung von Infrastruktur und Lebensbedingungen führt häufig zu Verdrängung und sozialen Spannungen. Diese Prozesse haben nicht nur physische, sondern auch symbolische Bedeutung, da sie die soziale Ordnung neu definieren und Fragen von Zugehörigkeit, Macht und Gerechtigkeit verhandeln. In Timor-Leste zeigt sich dies besonders deutlich in der Art und Weise, wie die Regierung versucht, unter dem Deckmantel von Stadtverschönerung und Ordnung die Kontrolle über Raum und Ressourcen zu festigen – oft auf Kosten der Schwächsten.
Forderung nach systematischen Lösungen
Die Stimmen in der Gesellschaft sind vielfältig, geeint sind sie in ihren Forderungen: es sind auf Regierungsebene nachhaltige und gerechte Lösungen zu entwickeln, die über kurzfristige Maßnahmen hinausgehen. Es bedarf transparenter politischer Prozesse, die soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt stellen und die strukturellen Ursachen von Armut, informellen Siedlungen und unzureichender urbaner Planung angehen. Gewalt und Zwang dürfen nicht die Werkzeuge einer demokratischen Regierung sein.
Für eine ergänzende visuelle Darstellung der Thematik und um die Perspektiven der betroffenen Personen zu hören, sei auf folgendes Video von Radio e Televisão de Timor-Leste (RTTL) verwiesen.
Autor: Finn Gelsdorf