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Von Ausbeutung und Widerstand: Weibliche Beschäftigte im Textilsektor Kambodschas

Wie kann die Handlungsfähigkeit weiblicher Beschäftigter in globalen Produktionsketten untersucht werden? Michaela Doutch hat das am Beispiel von Kambodscha untersucht (Foto von Michaela Doutch)

Wie können sich Textilarbeiterinnen gegen ihre Ausbeutung wehren? Das untersuchte eine Forschung in Kambodscha. Eine Rezension.

Wie kann die Handlungsfähigkeit weiblicher Beschäftigter in globalen Produktionsketten untersucht werden? Sie leben und arbeiten unter menschenunwürdigen Bedingungen, etwa mit massiven Überstunden, sodass keine Zeit für die Betreuung ihrer Kinder oder eigene Erholung bleibt. Wie können sich diese Beschäftigten gegen ihre Ausbeutung wehren? Doutch stellt in "Women workers in the garment industry of Cambodia. A feminist labour geography of global (re)production networks" die weiblichen Beschäftigten der Textilindustrie Kambodschas ins Zentrum. Gleichzeitig sind die strukturellen Parallelen zu Beschäftigten in anderen Ländern und Industrien unverkennbar.

Globale (Re)Produktionsnetzwerke

In den ersten beiden Kapiteln führt Doutch in ihren theoretischen Ansatz einer feministischen Labour Geography globaler (Re)Produktionsnetzwerke ein. Labour Geography strebt an, Kapitalismus aus Perspektive der Arbeitenden zu verstehen. Bei Doutch sind dies arbeitende Frauen des Textilsektors in Kambodscha, die sich und ihre Familien „reproduzieren müssen“ (vgl. z.B. S. 12).

Doutch macht es sich nicht zu einfach: Ihr theoretischer Rahmen umspannt Reproduktion und Produktion, formelle und informelle Beschäftigung, Ausbeutung und Handlungsfähigkeit der „working people“ (S. 48). Arbeitskampf ist vielschichtig bis zu dem Punkt, dass ein Kampf einem anderen im Weg stehen kann (vgl. S. 12). Ihre Theorie bereitet das Argument vor, Frauen, die in globalen Produktionsketten ausgebeutet werden, könnten gegen ihre Ausbeutung am besten ausgehend von ihren informellen Beziehungen und Reproduktionsnetzwerken Widerstand leisten:

Due to the specific gendered relations of power and dominance in formal production processes, […] (in)formal women workers in the Global South, have to (re)generate forms (…) of agency predominantly outside of such processes. (S.49)

Der boomende Textilsektor und seine Hauptfiguren

Das dritte Kapitel skizziert den polit-ökonomischen, sozialen und räumlichen Kontext des Landes. Wie kam es dazu, dass der exportorientierte Bekleidungssektor in Kambodscha so bedeutsam wurde (vgl. S. 53)? Nach einer Periode von „Krieg, Krisen und Konflikten“ (S. 54) konnten in Kambodscha viele nicht mehr von der Landwirtschaft leben. Seit den frühen 1990ern gab es eine zunehmende Privatisierung und Fragmentierung von Land sowie demographische und klimatische Veränderungen. Gleichzeitig zog es besonders junge Frauen in die Städte, die sich dort neue Einkommensquellen und neue Gestaltungsmöglichkeiten ihrer Leben erhofften. Care- und Lohnarbeit wurden so in vielen Fällen räumlich neu organisiert. Es entstanden soziale (Re)Produktionsnetzwerke über große Distanzen: Kambodschanische Frauen lassen ihre Kinder im sozialen Umfeld auf dem Land zurück, tätigen Rücküberweisungen für ihre Eltern und Kinder. Auch wer in die Stadt zieht, greift oft auf bestehende Beziehungen zu Menschen zurück, die bereits früher migriert sind (S. 53–61).

Die Frauen arbeiten in einer „stop over“-Industrie, finanziert und gemanagt durch Direktinvestitionen und Personal aus dem nahgelegenen finanzstärkeren Ausland, z. B. aus China, Taiwan, Hongkong, Japan, Südkorea oder Singapur (S. 62–64). Rohstoffe und Zwischenprodukte werden importiert und die fertige Ware vor allem in die USA und Europa exportiert.

In der internationalen Konkurrenz behauptet sich Kambodschas Industrie nur durch geringe Produktionskosten, was sich in schlechte Löhne und miserable Arbeitsbedingungen übersetzen lässt. Organisierte Arbeitnehmer:innenvertretung existiert, ist aber männlich dominiert (S. 70), das Patriarchat tief in der kambodschanischen Kultur verwurzelt (S. 75). So wird erwartet, weibliche Beschäftigte wären leicht zu disziplinieren; die doppelte Last von Care- und Erwerbsarbeit scheint selbstverständlich (S. 76). Doutch zeigt: Die Frauen Kambodschas befinden sich in hierarchisch und patriarchal geprägten, kapitalistischen Strukturen mehrdimensional in prekärer Position.

Doch während Männer die Produktion dominieren (auch wenn es auch prekär beschäftigte Männer in der Industrie gibt, etwa in der Logistik), haben Frauen die Oberhand in der Reproduktion. Damit verbunden sind spezifische Netzwerke, Räume und Orte, etwa Wasch- und Kochstellen sowie Lebensmittelmärkte.

Das dritte Kapitel führt auch einige der Protagonist:innen von Doutchs Ethnographie ein (hervorgehoben sei besonders der typische Arbeitstag der Arbeiterin Maly, S.70 f.). Lesende müssen dann im vierten, methodischen Kapitel 30 Seiten warten, bis sie wieder etwas über die Informant:innen erfahren. Doutch stellt auf diesen Seiten den Forschungsprozess und ihre Vorgehensweise des „feministischen, teilnehmenden action research“ (S. 105) dar. Sie zeigt, wie ihre Informant:innen in die Auswertung und in strategische Überlegungen zu einem gestärkten Widerstand gegen ihre Ausbeutung eingebunden wurden.

Soziale Netzwerke im Überlebenskampf

Das Herz des Buchs bilden das fünfte und sechste Kapitel mit einigen der Lebensgeschichten der 30 Hauptinformant:innen (vgl. S. 113–115) und deren theoretischer Einbettung. Doutch zeigt etwa auf, wie die sozialen Verbindungen zwischen Generationen und zwischen Stadt und Land durch die Arbeit im Textilsektor reorganisiert werden. So werden Kinder oder zu pflegende Eltern eher dann mit in die Stadt genommen, wenn die sozialen Netzwerke auf dem Land nicht zulassen, dass sie dort versorgt werden.

Doutch zeigt, wie auch familiäre Beziehungen durch Systeme wie Anwesenheitsboni und durch Überstunden (erzwungen durch schlechte Löhne) in den Fabriken beeinflusst werden (z.B. S. 130 f.). Sie zeigt, wie die Gesundheit der Arbeiterinnen dem Produktionsdruck untergeordnet wird (z.B. S.164 ff.). Sie zeigt, wie Arbeiterinnen Schuldenfallen begegnen, wie sie sich organisier(t)en und welche auch problematischen Entwicklungen eines großen Streiks aus den Jahren 2013 bis 2014 (vor allem im sechsten Kapitel) folgten. Sie zeigt dabei auch die Bedeutung von sozialen Netzwerken außerhalb der Fabriken für den Arbeitskampf auf.

Dabei enthält die Darstellung sowohl polit-ökonomisch als auch alltagsbezogene Details, die in anderen Berichten und Studien selten so genau in einen Zusammenhang gebracht werden. So werden berechtigte Fragen aufgeworfen – etwa was den Frauen ein höherer Mindestlohn nutzt, der nur dazu führt, dass sie in weniger Zeit mehr leisten müssen – was sie nicht schaffen, Lohnabzüge erleiden oder Boni nicht bekommen und am Ende Gefahr laufen, weniger Einkommen zu haben als vorher (vgl. S. 199 ff.).

Arbeitskampf und Ausbeutung

Doutch entwirft zwei scheinbar widersprüchliche Erzählungen. Die erste Erzählung ist, dass die Frauen in Kambodscha, die in der Textilproduktion arbeiten, handlungsfähig sind. Dass sie Entscheidungen treffen, auch Widerstand leisten können. Dass aber ihr Potential bisher nicht ausgeschöpft ist, weil aufgrund eines männlichen Blicks auf den Arbeitskampf viel Potential noch nicht erkannt wurde, auch von den Frauen selbst nicht. Das Potential beruht auf den Beziehungen, Orten und „spaces“ der Reproduktion, die durch Fürsorge, Liebe und Solidarität angetrieben werden. Das könnte die Ehe mit dem Lastwagenfahrer sein oder die Verbindungen mit den Frauen, die an der gleichen Stelle ihre Besorgungen machen.

Die zweite Erzählung ist, dass die Frauen in der Mahlmühle des globalisierten Kapitalismus in unerträglichem Maße ausgebeutet werden und dass sie ums schlichte Überleben ihrer Familien und sich selbst kämpfen. Dass sie sich in einer Armutsspirale befinden, bei der selbst die qualvollsten Anstrengungen nicht zu einer Befreiung führen (können). Leser:innen dürften nach der Lektüre überzeugt sein, dass Veränderungen dringend geboten sind.

Analytisch und emotional

Doutch schafft es, Inhalte analytisch darzustellen und den Lesenden trotzdem auch Zugang auf Gefühlsebene zu erlauben. Ich musste absetzen zu lesen, als sie das Schicksal eines aus der Not heraus tagtäglich allein gelassenen fünfjährigen Kindes einer Informantin schildert (mit „Potentialen und Möglichkeiten auf dem geringsten möglichen Standard“, S.152) – während mein eigener Sohn im gleichen Alter stolz seine Reitstunde vor meinen Augen genoss. Es gehört zu den patriarchalen Strukturen in den Wissenschaften, dass wir diesen emotionalen Zugang zu Wissen meist zu wenig wertschätzen.

Expert:innen werden auch darüber hinaus von den Details der Darstellung profitieren. Die feministische Analyse macht nicht zuletzt die Position arbeitender Männer im Sektor sichtbar, insbesondere im siebten Kapitel.

Reicht die Erfahrung der Ausbeutung gepaart mit dem Potential der reproduktiven Schnittstellen zwischen Menschen als Basis für transnationalen Widerstand, etwa über Stufen der Wertschöpfung hinweg? Die Diskussion führt Doutch kenntnisreich und komplex, muss aber eine finale Antwort schuldig bleiben. Wer transformatorische Inspirationen sucht, sollte in jedem Falle Kapitel 7 lesen.

Wer keine Zeit hat, das ganze Buch zu lesen, dem seien insbesondere Kapitel drei, fünf und sechs für die detailreiche und einprägsame Schilderung von Schicksalen und deren polit-ökonomischen Wurzeln ans Herz gelegt. Wer das Buch gar nicht lesen wird, sollte zumindest aus dieser Rezension mitnehmen, dass den Frauen des Bekleidungssektors innerhalb und außerhalb formalisierter politischer Strukturen mehr Gehör geschenkt werden muss, und dass für die Informant:innen Bildung, Gesundheit und Renten- und Sparsysteme die wichtigsten Anliegen waren.

Selbst wenn es wehtut, auch die international agierende Zivilgesellschaft und Gewerkschaften müssen Lehren aus Büchern wie diesen ziehen. Dann könnte Doutchs Fazit, nur außerhalb formaler Prozesse der Produktionsnetzwerke könnten Frauen Arbeitskampf führen, in Zukunft etwas entgegnet werden.

Rezension von: Michaela Doutch: Women workers in the garment industry of Cambodia. A feminist labour geography of global (re)production networks. regiospectra Verlag, 333 Seiten.

Jiska GojowczykRezensentin: Dr. Jiska Gojowczyk ist Soziologin und arbeitet beim SÜDWIND-Institut als Expertin für die Wertschöpfungsketten von Schuhen und Leder. Aktuell arbeitet sie u.a. gemeinsam mit der indonesischen Organisation Trade Union Rights Center (TURC) zu Genderdiskriminierung im Arbeits- und Gesundheitsschutz in der Bekleidungs- und Schuhindustrie.

Hinweis: Am 23. November organisieren wir in Kooperation mit der Melanchthon-Akademie zu dem Thema eine Veranstaltung in Köln.

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