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Indonesien nach der Corona-Pandemie – business as usual

Corona-Pandemie: Impfkampagne in Jakarta, Indonesien (Foto Tubagus Rachmat).

Die Corona-Pandemie stellte den informellen Sektor in Indonesien vor große Herausforderungen. Ende 2020 berichtete die Stiftung Asienhaus über die Lage von Straßenhändler:innen in Jakarta. Wie ist es den Menschen in den letzten zwei Jahren ergangen? Ein Hintergrundinterview über die Entwicklungen.

Nurman Nowak hatte im Oktober 2020 in der Broschüre „Corona in Asien“ über die „Die Pandemie in der Welt der ‚kleinen Leute‘ Jakartas“ berichtet. Darin wurden die sozialen Ungleichheiten in Jakartas urbaner Gesellschaft aufgezeigt und wie sich die Pandemie als soziale Krise für städtisch Arme äußerte.

Städtisch Arme in Jakarta

Rakyat kecil (‚kleine Leute‘) nennen sich die Angehörigen der Unter- und unteren Mittelschicht selbst. Sie leben zumeist in sogenannten urban kampung, das sind Siedlungen mit hoher Bevölkerungsdichte und Behausungen aus Sperrholz und Wellblech. Sanitäre Einrichtungen sind öffentlich. Etwa 90 Prozent von ihnen arbeiten im informellen Sektor, z. B. als Straßenhändler:innen, als Motorradtaxifahrer:innen, als Tagelöhner:innen auf Baustellen und als Servicepersonal.

Für die ‚kleinen Leute‘ in der indonesischen Megacity traten gesundheitliche Aspekte zu Beginn der Pandemie (2020) in den Hintergrund. Sie waren vielmehr mit wirtschaftlichen und soziale Herausforderungen konfrontiert, die COVID-19-Maßnahmen der Regierung und Stadtbehörden führten zudem zu sozialen Spannungen in den Vierteln.

Seither sind zwei Jahre vergangen, in denen Indonesien in 2021 monatelang massive Corona-Inzidenzen hatte. Wir haben uns mit Nurman Nowak über die Entwicklungen der Pandemie und zur Situation der städtisch Armen in Jakarta unterhalten.

Wie hat sich das Pandemiegeschehen in 2021 und 2022 innerhalb Indonesiens entwickelt?

Pandemie im Juni 2020, Gesundheitskräfte bei der Arbeit (Copyright: ILO/F. Latief, auf FlickR/ILO Asia-Pacific unter Creative Commons Attribution‐NonCommercial‐NoDerivs 3.0)Seit dem 3. Januar 2020 bis 21. Oktober 2022 wurden in Indonesien insgesamt 6.467.189 positiv auf Corona getestet, 158.398 verstarben. In einem Land mit einer Bevölkerung von mehr als 270 Millionen Menschen, verteilt auf über 6.000 bewohnte Inseln, ist das ein sensationell niedriger Wert. Dies weist auf Defizite in der Datenerfassung hin.

Sonst wirkte sich die Pandemie je nach Ort und Region und sozioökonomischer und soziokultureller Lage sehr unterschiedlich aus. Weltweit in den Schlagzeilen war Indonesien bzw. Jakarta während der Delta-Welle, die von Ende Mai bis September 2021 über das Land hinwegfegte.

Die Folgen der Delta-Welle

Die Delta-Welle traf Indonesien heftig. In den Medien sah man erschreckende Bilder, die Zahlen waren hoch.

In dieser Zeit galt das Land als Hotspot der Pandemie in Asien. Am 15. Juli 2021 wurde der Höhepunkt dieser Welle erreicht, als 56.757 positiv Getestete an einem Tag festgestellt wurden. Am 27. Juli 2021 wurden mit 2.069 die bisher höchste Zahl an COVID-19-Verstorbenen an einem Tag gezählt.

Delta- und Omikronwelle: Oben: COVID-19 positiv Getestete/Tag, unten: COVID-19-Gestorbene/Tag, Quelle: covid19.indonesia.co.idDie reinen Zahlen während der Delta-Welle spiegelten dabei nur Trends wider. In der Realität, wo weitaus mehr Menschen erkrankt waren, manifestierte sich die Pandemie in einem ganzen Komplex von Krisen im Gesundheitssystem, Wirtschaft und Gesellschaft.

Und wie war bzw. ist das mit Omnikron?

Seit September 2021 hat sich die Lage wieder entspannt. Zwar wurde während des Höhepunkts der Omikron-Welle am 17. Februar 2022 mit offiziell 63.959 positiv Getesteten am Tag der bislang höchste Wert seit Pandemiebeginn ermittelt, doch durch die niedrigere Mortalität der Variante, einer weit fortgeschrittenen ‚Durchseuchung‘ und einer auf Java und Bali erfolgreichen Impfkampagne sind erheblich weniger Menschen schwer erkrankt oder gestorben.

Wie gestaltete sich der Pandemie-Alltag der Menschen seit 2021? Was für offizielle Regelungen gibt es?

Abgesehen von der katastrophalen Delta-Welle haben sich im Laufe der letzten zwei Jahre neue Routinen entwickelt, vor allem in Jakarta. Man gewöhnte sich an die je nach Pandemiegeschehen strengeren oder laxeren Maßnahmen, die in der Verordnung PPKM rechtlich fixiert wurden. Die Maßnahmen reichen von ‚Level 1‘ mit wenigen Maßnahmen, z. B. Maskenpflicht, bis ‚Level 4‘, der (Teil-) Lockdowns mit strengen Reise- und Versammlungsverboten, geschlossene Schulen und Universitäten sowie Homeoffice-Pflicht beinhaltet.

Um öffentliche Orte zu betreten oder den ÖPNV zu nutzen, ist bis heute das Einchecken mit der PeduliLindungi-App obligatorisch, unabhängig von der Lage. Sobald ein positives Testergebnis vorliegt, wird das Gesundheitsministerium automatisch informiert und die App verwehrt das Einchecken und damit die Teilnahme am öffentlichen Leben für zehn Tage.

Indonesien auf dem Weg zurück in die ‚Normalität‘

Und wie ist die Situation in Indonesien derzeit im Oktober 2022?

Streetfood in der Altstadt Jakartas, 2020 (Foto: Nurman Nowak)Etwa seit April 2022 kehrt etwas Normalität zurück. Indonesien hat wieder seine Pforten für internationale Tourist:innen geöffnet, was vor allem für Bali relevant ist, und auch sonst meldet die Wirtschaft business as ususal. Die Zentralregierung führt mittlerweile ihre wirtschaftsfreundliche Politik fort. 2021 und ‘22 wurde noch massiv in Corona-bedingte Maßnahmen investiert, also z. B. in Krankenhauskapazitäten, Impfdosen, Test-Kits und Infrastruktur. Tatsächlich fielen die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie aber weniger stark aus, als viele befürchteten.

Doch die allgemeine soziale Ungleichheit im Land führt dazu, dass sich die wirtschaftliche Lage für bessergestellte Indonesier:innen und Unternehmen zwar verbessert, für die ärmere Hälfte der Gesellschaft jedoch stagniert oder sich als Misere darstellt. Unter dem Slogan ‚Pulih lebih cepat, bangkit lebih kuat!‘ (Schneller erholen, stärker werden!) werden brachliegende Wirtschaftsprojekte rücksichtslos vorangetrieben.

Kannst du uns etwas über die gesundheitlichen Folgen sagen. Wie war das Gesundheits- und Regierungs-Management während der Delta-Welle? Wieweit konnte das Gesundheitssystem schwere Erkrankungen auffangen?

Die Delta-Welle (Ende Mai – ca. September 2021) traf Indonesien, dessen Bevölkerung bis dahin nur unzureichend geimpft war, massiv. Eine bereits Ende März 2021 durchgeführte Serologiestudie (COVID-19-Antikörperuntersuchung) mit 5.000 Bürger:innen aus 100 Gemeinden in sechs Distrikten Jakartas kam zu dem Ergebnis, dass bereits 44,5 % der Gesamtbevölkerung über COVID-19-Antiviren verfügten müssen, also 4,7 Millionen der mehr als 10 Millionen Bürger:innen Jakartas das Virus bereits schon einmal in sich trugen. Inzwischen muss man von einer ‚Durchseuchung‘ von weit über 90 % ausgehen.

Die im März 2020 132 vorbereiteten COVID-19-Krankenhäuser und die Anfang 2021 angeordnete Umwidmung von 20-40 % aller Betten in COVID-19-Einheiten in allen restlichen staatlichen Krankhäusern reichten nicht aus, um die Bevölkerung adäquat zu versorgen. Zwar zeigen die Statistiken, dass selbst in der Hochphase der Delta-Welle (Juli 2021) die Betten-Kapazitäten nicht zu 100 % ausgelastet waren, trotzdem kam es vor Krankenhäusern zu chaotischen Szenen mit von Patienten überfüllten Gängen und Warteräumen. Zelte mit Feldbetten wurden vor Krankenhäusern aufgestellt, Stadien, Sporthallen und in Jakarta gar das Athleten-Dorf der Asienspiele 2018 in temporäre COVID-19-Unterkünfte umgebaut.

All diese Maßnahmen reichten nicht aus, um die pandemische Lage zu kontrollieren. Es kam zu Engpässen in der Versorgung mit Sauerstoff, u.a., weil die indonesische Regierung kurz vor Beginn der Delta-Welle Sauerstoff als humanitäre Hilfe nach Indien lieferte. In Jakarta waren zeitweise Tausende in der gesamten Stadt unterwegs, um Sauerstoff für ihre an Atemnot leidenden Angehörigen oder Freund:innen zu suchen. Bereits 2020 zeigte sich, dass das Krankenhauspersonal an die Grenzen der Belastungskapazitäten stieß und teilweise schlecht ausgerüstet war. 545 Ärzt:innen sind bis Juli 2021 an COVID-19 gestorben, allein 20 % (114) in der Zeit vom 1. – 17. Juli 2021. Insgesamt sind 751 Ärzt:innen bis Mitte Oktober 2022 gestorben.

Schauen wir konkret, wie es den Menschen erging. Du hast 2020 über die die ‚kleinen Leute‘ in Jakarta berichtet. Wie schlimm traf sie die Delta-Welle?

Die Dramatik der Delta-Welle zeigt sich eindrucksvoll in den Schilderungen meiner Gesprächspartner:innen. Pak Bahrun, der Dorfvorsteher des urban kampung Kebun Sayur, das sich in Nord-Westjakarta direkt östlich der Altstadt befindet, berichtete von täglich 5 bis 7 Toten. Normal sind dort 3 bis 5 im Monat bei einer Bevölkerung von ca. 7.000 Haushalten. Ähnliches hörte ich von Pak Rendi, der in der Verwaltung des Dorfes Cisaat bei Cirebon, einem ländlichen Distrikt ca. 300 km von Jakarta entfernt, arbeitet. Hier gab es wohl täglich einen Todesfall bei einer Bevölkerung von 5.000 – 6.000 Menschen, normal sei ein:e Tote:r pro Monat.

Doch nicht nur dort war die Lage kritisch. Ein Kollege, der in Jakarta in einem Wohnkomplex besser gestellter Bürger:innen wohnt, konnte in dieser Zeit mehrmals beobachten, wie Leichen aus den Hochhäusern abtransportiert wurden. Das ist ein Bild, das in solchen Gegenden eher selten vorkommt.

Aktivist:innen des JRMK, ein Netzwerk von städtische Armen, das sich für deren Rechte einsetzt, berichteten in dieser Zeit von täglich bis zu 30 Toten in den 18 von ihnen betreuten urban kampungs. Geschichten von Leichenfunden am Straßenrand machten bald die Runde.

Die Menschen in den urban kampungs stehen zwischen der Wahl ihre Existenz oder ihr Leben zu verlieren.

Kommentar eines JRMK-Aktivisten während der Delta-Welle im Juni 2021

In deinem Bericht im Oktober 2020 ging es insbesondere über die sozialen Folgen und wirtschaftlichen Nöte, da Menschen im informellen Sektor nicht mehr arbeiten durften und sich teilweise verschuldeten. Das waren u. a. Straßenhändler:innen. Wie ist es ihnen in der Delta-Welle ergangen?

Coronamaßnahmen in einem Cafe, Jakarta (Foto: Nurman Nowak)Während der Delta-Welle galt über Monate die Corona-Verordnung (PPKM) auf der höchsten Stufe ‚Level 4‘. Dies machte es für die meisten städtischen Armen unmöglich, Geld zu verdienen, da sie im informellen Sektor als Straßenhändler:innen und Tagelöhner:innen wegen der Teil-Lockdowns keine Kundschaft und Arbeit finden konnten.

Aktivist:innen von JRMK kritisierten massiv den ungleichen Zugang zur Gesundheitsinfrastruktur, Lebensmitteln und Informationen. Der Preis für einen PCR-Test belief sich in dieser Zeit zwischen 600.000 und 1,5 Millionen Rupiah (ca. 30-100 EUR) und anders als in 2020, als zumindest sporadisch durch den Staat Essensrationen verteilt wurden, ist dies seit der geltenden Corona-Verordnung PPKM nicht der Fall. Ein positiver PCR-Test ist die Voraussetzung für die Überweisung in ein COVID-19-Krankenhaus. Immerhin, JRMK konnte mit einer über Spenden eingerichteten kollektiven Küche die zu Hause ausharrenden Isolierten mit frisch gekochten Lebensmitteln versorgen.

Neben Nothilfemaßnahmen der Behörden hast du über große Solidarität unter den Menschen und über soziale Initiativen und in der Not entstanden Hilfsaktionen berichtet. Wie wurde weitergeholfen, was hat sich weiterentwickelt und ist entstanden?

Die Corona-Verordnung PPKM verharrte während der zwei Jahre Corona-Pandemie nicht immer auf ‚Level 4‘. In den ruhigen Phasen waren wirtschaftliche Aktivitäten möglich. Die Gewöhnung an den Corona-Alltag und der wirtschaftliche Abschwung führten dazu, dass weniger Hilfsinitiativen, etwa das Verteilen von Lebensmitteln durch Privatleute oder durch die Polizei, stattfanden. Die ärmere Bevölkerung reagierte darauf unterschiedlich.

Straßenhändler:innen in Jakarta harren aus und wehren sich

Kannst du Beispiele aus Jakarta nennen?

Müllsammler in Jakarta (Foto: Nurman Nowak)Ein interessantes Projekt wurde Anfang 2022 im kampung Akuarium initiiert. Viele Frauen waren damit beschäftigt, ständig zu waschen, da die Familienangehörigen bedingt durch Pandemiemaßnahmen fortwährend frische Wäsche benötigten - eine erhebliche Mehrbelastung. Vor diesem Hintergrund schlossen sich mehrere Frauen zusammen und gründeten eine Wäscherinnenkooperative. Mit einem kleinen Kredit beschafften sie sich eine Industriewaschmaschine und anderes Equipment. Nun waschen sie für die gesamte community und sogar für externe Kund:innen die Wäsche gegen ein faires und damit bezahlbares Entgelt.

Doch solcherlei Initiativen sind Ausnahmen. Die meisten Straßenhändler:innen in der Altstadt ‚tahan aja‘ – harrten aus – und machten weiter, so gut es eben ging. Manche verkauften in den Wochen und Monaten nach der Delta-Welle ihre mobilen Straßenstände und suchten sich andere Jobs, bettelten oder kehrten in ihre Heimatdörfer zurück. Mieten und andere Zahlungsverpflichtungen konnten sie oft nicht nachkommen. Wenn sie Glück hatten, drückte der Vermieter ein Auge zu.

Ein Müllsammler erzählte mir, dass die Preise für Plastikmüll (z. B. PET-Flaschen, Plastikbecher) sanken und so sein Einkommen schmälerten. Das war vermutlich eine Folge des massiven Anstiegs an Haushaltsmüll während der Pandemie, der das Angebot von Plastik für den Müllhandel vergrößerte und so einen Preisverfall hervorbrachte. Ebenso, so seine Beobachtung, gibt es erheblich mehr Müllsammler:innen und damit ‚Konkurrenz‘ auf den Straßen als noch im Jahr zuvor.

Für die meisten armen Menschen in der Stadt ist das Leben generell eine Abfolge von Krisen und guten Phasen. Deshalb waren die zwei Jahre Corona für die meisten von ihnen, abgesehen von der Delta-Welle, business-as-usual und indirekt gebunden an die aktuellen Stufen der Corona-Verordung (PPKM), ein ständiges Auf und Ab.

Wie geht es den Straßenhändler:innen momentan?

Seit März 2022 hat wieder eine gute Phase für die Straßenhändler:innen begonnen. Seitdem wurden die Corona-Maßnahmen laxer und bald gänzlich aufgehoben. Ibu Keriting etwa, die seit  Jahren in der Altstadt als Bakso (indonesische Fleischbällchen)-Verkäuferin arbeitet, konnte inzwischen alle ihre Schulden begleichen. Pak Muhiddin, der gleich zwei mobile Straßenstände besitzt, beschaffte sich einen dritten. Die Geschäfte laufen wieder!

Wie schätzt du die mittelfristige Perspektiven der Straßenhändler:innen ein?

Streetfood in der Altstadt Jakartas in der Pandemie (Foto: Nurman Nowak)In der Altstadt Jakartas stehen die Zeichen wieder auf Veränderung. Präsidentschaftswahlen stehen im Februar 2024 an, bei dem sich das politische Lager des derzeitigen Gouverneurs von Jakarta, Anis Baswedan, und das des scheidenden indonesischen Präsidenten Joko Widodo gegenüberstehen. Dieser politische Wettbewerb führt dazu, dass beide versuchen, sich durch das Vorantreiben von brachliegenden Entwicklungsprojekten zu profilieren.

Joko Widodos Regierung bleibt dem neoliberalen Wirtschaftsmodel treu.

Nurman Nowak

So begannen Mitte Juli 2022 in der Altstadt massive Umgestaltungsmaßnahmen: Zwei Hauptstraßen wurden in eine Fußgängerzone umgebaut, die Bauarbeiten zum Bau der neuen Metro werden vorangetrieben, verkommene als Lagerplatz für die mobilen Straßenstände und als informelle Wohnbaracken genutzte Kolonialbauruinen werden renoviert. Gleichzeitig wurde – mal wieder – ein strenges Verbot des Straßenhandels in weiten Teilen der Altstadt seit August verhängt. Lediglich in den Seitenstraßen ist es Händler:innen erlaubt, ihre Stände aufzubauen. Es ist mittelfristig vorgesehen, sie in die renovierten Kolonialbauten umzusiedeln. Die meisten jedoch wehren sich gegen diese Maßnahme.

Interessanterweise waren die Straßenhändler:innen im September 2022 immer noch auf den Straßen der Altstadt unterwegs. Die Renovierung stockt, die Stadtregierung und die Ordnungspolizei haben ihr strenges Regime gelockert – bis auf weiteres ist es doch wieder möglich auf den Straßen Essen wie zuvor zu verkaufen.

Für andere hingegen geht es in der Altstadt steil bergauf. Im urban kampung Kurnir, das 2016 zwangsumgesiedelt und abgerissen wurde, entstand in Rekordzeit endlich das ‚vertikale Dorf‘: In dem imposanten Mehrparteienhaus fanden die verbliebenen 34 Familien Platz, die sich gegen die Zwangsumsiedlung wehrten. Auch dieses brachliegende Projekt wurde, wenn auch mit Druck durch JRMK, endlich mit Nachdruck realisiert. Organisiert und verwaltet als Wohnungs- und Konsumgenossenschaft ist das vertikale Dorf ein Vorbild für alle Stadtteile mit städtisch Armen und Aktivist:innen in Indonesien. Der Gouverneur Jakartas profilierte sich medienwirksam als fairer Macher, der die Interessen aller Bürger:innen im Blick hat.

Wirtschaftswachstum zulasten von Arbeiter:innen und Umwelt

Du hattest im Oktober 2020 über Proteste in Jakarta berichtet. Diese waren zu der Zeit vor allem gegen das sogenannte Omnibus-Gesetz gerichtet. Wie ist die Situation zwei Jahre später?

Neue Bauprojekte in Jakarta (Foto: Nurman Nowak)Laut Weltbank-Daten wuchs die Wirtschaft im letzten Quartal des Jahres 2021 um 3,7 Prozent, für 2022 wird ein BIP-Wachstum von 5,1 und für 2023 ein Wachstum von 5,3 % erwartet. Diese Prognosen machen ‚Schneller erholen, stärker werden!‘ erst möglich. Doch es drängt sich die Frage auf, für wen es eigentlich besser wird.

Die indonesische Regierung unter Joko Widodo bleibt ihrem Ziel, die Infrastruktur massiv auszubauen und dem neoliberalen Wirtschaftsmodel treu: Das Omnibus-Gesetz, das u.a. die Rechte von Arbeiter:innen einschränkt und Umweltstandards senkt, wird gegen massiven Widerstand und Proteste implementiert. Es wird unlängst als Mittel zur Genesung der Wirtschaft dargestellt.

Welche Folgen des Krieges in der Ukraine kannst du in Indonesien beobachten?

Auch in Indonesien beeinflusst der Ukraine-Konflikt die Politik. Wie überall auf der Welt steigen in Indonesien die Energiepreise. Diese werden jedoch zu einem großen Teil von staatlichen Subventionen abgefedert, was wiederum Mittel für den Ausbau der Infrastruktur, dem großen Versprechen der Zentralregierung, bindet. Die Regierung sah sich deshalb gezwungen, die Energiesubventionen zu senken. Das hat die Preise für Benzin um 30 % verteuert und zu großen Demonstrationen in Jakarta geführt.

Und so bleibt nur ein nüchternes Fazit zu ziehen: Nach zwei Jahren Corona-Pandemie ist wieder business-as-usual in Indonesien.

Das Gespräch führte Raphael Göpel (Stiftung Asienhaus) im Oktober 2020.

Nurman NowakNurman Nowak ist Ethnologe und promoviert an der Universität Göttingen. Er forscht seit 2020 über die Lebenswelt städtisch Armer in der Altstadt Jakartas und konnte die Folgen zu Beginn der Pandemie im Stadtviertel dokumentieren. 2021 und 2022 kehrte er jeweils für mehrere Monate zu Nachforschungen zurück.

Wir danken herzlich dem Fotografen Tubagus Rachmat für das Titelbild.

Hinweis: Im Artikel von 2020 (Die Pandemie in der Welt der ‚kleinen Leute‘ Jakartas) ist uns ein Fehler unterlaufen: Dort stand, dass ein schnelles Testergebnis 250 Euro kostet. Wir haben dies falsch umgerechnet, tatsächlich beliefen sich damals die Kosten für einen Test auf etwa 25-50 Euro. Wir entschuldigen uns für den Fehler.

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